Die Geschichte von Celso

  21.08.2017

STEFAN GURTNER
Es scheint mir zum Verständnis des Themas «Erziehung durch Musiktherapie» – in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich besprochen – wichtig, an dieser Stelle wieder einige Lebensgeschichten von Jugendlichen zu schildern, auch wenn sie als Beweis für die therapeutische Wirkung von Erziehung durch Musik und Musiktherapie keinerlei Anerkennung finden würden. Bekanntlich ist es auf sozialem Gebiet ausserordentlich schwierig, solche «Beweise» zu erbringen, da im Leben eines Menschen viele Faktoren eine Rolle spielen. Alle Geschichten sind von mir wahrheitsgetreu wiedergegeben und die Geschehnisse sind genauso in den Ordnern, die in «Tres Soles» über alle Bewohner geführt werden, verzeichnet. In diesen Ordnern werden sämtliche Dokumente und Papiere derjenigen oder desjenigen, soweit vorhanden, aufbewahrt, einschliesslich eines Fotos. In dem Ordner von Celso gibt es ein Foto, das ihn bezeichnenderweise mit einer Zampo- ña zeigt, der andinen Panflöte, aus Schilfrohr hergestellt. Es ist kein Zufall, dass Celso mit diesem Instrument zu sehen ist, denn die Musik hat eindeutig sein Leben verändert.

Bevor ich jedoch fortfahre, schweifen wir in seine frühe Kindheit zurück. Celso wurde 1986 in einem Randviertel von La Paz geboren. Sein Vater hat sich nie um ihn gekümmert, wie das leider so oft der Fall ist. Man spricht davon, dass in Bolivien über 60 Prozent der Mütter alleinerziehend sind. «Der ist doch schwul», hört man etwa, wenn sich ein Mann um seine Kinder kümmert, oder «Erziehung ist Frauensache». Dieses Machogehabe ist – neben dem Alkoholmissbrauch – einer der Hauptgründe, warum Kinder verlassen werden und auf der Strasse landen. Celsos Vater hatte mit seiner Frau sieben Kinder, ausserdem mit zwei anderen Frauen zehn, also ingesamt 17! «Wie du an der Zahl meiner Kinder siehst, funktioniert mein Vervielfältigungsapparat ausgezeichnet!», bemerkte er bei einem Besuch von Celso stolz zu seinem Sohn.

Celsos Mutter starb, als er sieben war. Der Vater kam nicht einmal zur Beerdigung. Celso wurde bei einem Onkel und einer Tante untergracht, wo er putzen und kochen musste. Als er misshandelt wurde, riss er aus. Auf der Strasse wurde er von der Polizei aufgegriffen und in ein Kinderheim gebracht. Er konnte sich jedoch nicht eingewöhnen, riss erneut aus und lebte wieder auf der Strasse. Diesmal jedoch traf ihn die ganze harte Wirklichkeit, die das Leben auf der Strasse so mit sich bringt. Müde und krank kehrte er schliesslich doch wieder zu seinem Onkel und seiner Tante zurück und die Probleme kochten folglich aufs Neue hoch.

«Ich entschied mich, wieder auf der Strasse zu leben. Im Gegensatz zu früher verbrachte ich jetzt mehrere Jahre dort», berichtete er, als er zu uns kam. «Ich fiel tief, so tief, dass ich nicht mehr an eine Zukunft für mich glaubte – bis mich ein Sozialarbeiter des Jugendamtes zu ‹Tres Soles› brachte». Die erste Zeit war für ihn allerdings nicht einfach. Er war zwölf Jahre alt, so gut wie nie zur Schule gegangen und tat sich schwer mit den Regeln der Wohngemeinschaft. Unterernährt wie er war, waren seine Zähne in einem dermassen schlechten Zustand, dass sie alle gezogen werden mussten. Zudem war er so kurzsichtig, dass er eine Brille mit dicken Gläsern benötigte. Der Musiklehrer, den wir Teresa Laredo zu verdanken hatten, ermunterte ihn, in der projekteigenen Musikgruppe mitzumachen. Das erste Instrument, das er erlernte, war die Zampo- ña. Trotzdem riss Celso insgesamt noch drei Mal aus, bevor er sich endgültig für «Tres Soles» entschied. «Am Ende verstand er, dass er weder bei seinem Onkel noch bei seinem Vater willkommen war, der ihn letzthin noch nicht einmal erkannt hatte», schrieb Guisela in ihrem Bericht. «Es macht Celso traurig, dass er seine Mutter so früh verloren und er keine Familie mehr hat.» «Tres Soles» wurde gezwungenermassen zu seiner Familie. Er begann in der Theatergruppe mitzuspielen und in der Nähwerkstatt zu arbeiten, aber was ihn am meisten interessierte, war der Musikunterricht. Er lernte neben der Zampoña auch Gitarre und andere Instrumente spielen und ging sogar zur Musikschule, um das Klavierspiel zu erlernen. Trotz der Lücken, die er zu Anfang hatte, wurde er ein guter Schüler und schaffte das Abitur. «Ich möchte Musik studieren», erklärte er unserem Psychologen Lucio, als sich die Frage nach der Berufswahl stellte. «Auch wenn ihr es mir nicht glaubt, die Musik hat mir Halt gegeben, als es mir so mies ging. Ich hatte plötzlich Ziele, ich wollte Zampoña spielen lernen, dann Gitarre, dann Klavier ... deswegen kam ich immer wieder zurück.»

«So, so, also nicht unseretwegen», brummte Lucio, aber natürlich verstand er ihn. Immerhin war das die Grundidee unserer Erziehung durch Kunst: eigene Talente zu entdecken und seine Vorstellungen zu verwirklichen. Ein Ziel im Leben zu haben, ist noch immer die beste Vorbeugung gegen zerstörerische Verhaltensweisen, selbst wenn das Ziel letzten Endes nicht erreicht wird.

Celso, zum Beispiel, brach seine Musikausbildung nach drei Jahren ab, weil es für ihn zu schwierig wurde. Natürlich war er – und auch wir – enttäuscht, aber wenigstens verfiel er nicht mehr in sein altes Verhaltensmuster und kehrte dem Milieu, dem er entstammte, den Rücken. Er ging als Gastarbeiter nach Argentinien, wo er mehrere Jahre in einer Kleiderfabrik arbeitete. Nähen hatte er schliesslich in «Tres Soles» gelernt. Man wirft uns manchmal vor, auch von bolivianischer Seite, dass wir zu viel Zeit und zu viel Geld in jeden Jugendlichen investieren, aber nach unserer Überzeugung kann ein zerstörtes Leben, das auch nur annähernd wieder in geordnete Bahnen kommt, keinen Preis haben!

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, der kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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