«Ich bin hier selbstbewusster geworden»

  15.08.2017 Gstaad

Markus Zangger kam als zwölfjähriger Primarschüler in die Sonderschule zu Jürg Jegge – dem bekannten Pädagogen und Autor von «Dummheit ist lernbar». Jegge habe die «angstfreie Schule» propagiert und habe auch besonderen Wert darauf gelegt, die Schüler auch in der Freizeit zu treffen, schreibt Zangger in seinem Buch. Zuweilen habe er ausgewählte Schüler in sein Maiensäss im Turbachtal eingeladen. Und dort begannen auch die körperlichen Übergriffe.

ANITA MOSER
Vier Jahre seines Lebens verbrachte der junge Markus Zangger im Saanenland. Auf Anraten seines Lehrers absolvierte er das zehnte Schuljahr in Schönried, gewohnt hat er bei Frieda und Kurt Gerber in Schönried. «Meine Gasteltern waren ausgesprochen fürsorglich und nahmen mich wie ein Familienmitglied auf», schreibt Markus Zangger. Später zog er zu Heidi und Ruben Frautschi nach Gstaad, absolvierte eine Töpferlehre in der Töpferei in Saanen. «Ich lebte mich rasch in meinem neuen Zuhause ein. ‹Klara und Ruedi› – wie er die beiden in seinem Buch nennt – nahmen mich herzlich auf und taten alles, damit ich mich bei ihnen wohlfühlte.» Doch die Übergriffe hörten nicht auf. «Ich lebte fortan in zwei Welten: Im Alltag war ich der fröhliche, beliebte Markus. Unauffällig und normal. Doch wenn Jürg zu Besuch kam und mich mitnahm, brach alles in mir zusammen. Dann war ich wieder der blockierte, verklemmte Sonderschüler, der therapiert werden musste», heisst es im Buch.

Der «Anzeiger von Saanen» hat sich mit Markus Zangger zu Hause bei Heidi und Ruben Frautschi getroffen. Dort, wo Markus Zangger während seiner Ausbildung zum Töpfer im Erdgeschoss gewohnt hatte.

Markus Zangger, wie hat man in Ihrem Umfeld auf das Buch reagiert?
Markus Zangger
(MZ): Man kennt mich im Zürcher Unterland. Ich war Postautochauffeur, Bademeister. Viele klopften mir auf die Schulter und sagten: «Endlich hat jemand den Mut, endlich spricht jemand darüber.»

Dann war es demnach bekannt, dass Jürg Jegge Grenzen überschritten hat?
MZ:
Man hat es gespürt, geahnt, sich aber nicht getraut, es zu thematisieren.

Es sind ja auch schwere Anschuldigungen.
MZ:
Genau, ohne handfeste Beweise, ohne den Brief, in dem er ein Teilgeständnis abgibt, hätte ich das Buch nicht schreiben können.

Wie geht es Ihnen heute?
MZ:
Gut. Ich bin sehr entlastet, habe den Rucksack ablegen können. Ich hatte natürlich grosse Angst und Respekt vor diesem Schritt. Aber durch meine Recherchen habe ich viel gewusst, auch von meinem Bruder und von ehemaligen Klassenkameraden, denen das gleiche passiert ist wie mir. Die Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist, die ganze Aufarbeitung mit dem Schreiben des Buches und Beantworten der Fragen von Hugo Stamm haben mir enorm viel gebracht.

Sie haben nach dem Tod Ihrer Frau angefangen zu schreiben. Weshalb?
MZ:
Ich habe über ihren Tod geschrieben, wollte das verarbeiten – und plötzlich habe ich in dem Tagebuch über das «Dureschnuufe» geschrieben. (Anm.: «Dureschnuufe» nannte Jürg Jegge eine Übung, die aber nicht weniger als ein sexueller Übergriff war.)
Heidi Frautschi (HF): Deine Frau hat gar nichts gewusst? Du hast es ihr nie erzählt?
MZ: Ich habe mich nicht getraut, ihr davon erzählen. Ich konnte es nicht werten oder einordnen. Also habe ich es verdrängt.

Ihre Frau hat Jürg Jegge gekannt, hat mit ihm zu tun gehabt.
MZ:
Ja, und sie hat gespürt, dass etwas nicht stimmt. Einmal hat sie zu mir gesagt «Weshalb sprichst du nicht mit mir?» Meine Antwort: «Aber ich rede doch mit dir.» Sie: «Aber nicht richtig.» Ich habe damals nicht verstanden, was sie gemeint hat. Im Nachhinein vermute ich, dass sie gespürt hat, dass etwas nicht stimmt.

Sie haben eine erwachsene Tochter. Wie hat sie reagiert, als Sie mit ihr darüber gesprochen haben, was Ihnen widerfahren ist?
MZ:
Auch sie hat gespürt, dass irgendetwas in der Luft ist. Sie konnte es aber nicht fassen, hat den «Fehler» bei sich gesucht. Sie hat meine Gespanntheit, meine Ruhelosigkeit gespürt, aber das Gefühl gehabt, sie genüge ihrem Vater nicht.

Wie geht sie damit um, dass ihr Vater plötzlich im medialen Fokus steht?
MZ:
Sie wollte im Buch nicht mit dem richtigen Namen genannt werden. Und ich wollte sie auch nicht hineinziehen. Sie hat ihr eigenes Leben, sie darf sich um ihr Leben kümmern. Aber sie ist stolz, dass ihr Papi den Mut hat, hinsteht und sagt, was geschehen ist.
HF: Es hat Mut gebraucht, schliesslich geht es um einen bekannten Pädagogen.
MZ: Und genau das war sein Schutz. Niemand hat sich an ihn herangetraut. Auch ich hatte Angst. Zum guten Glück haben wir rechtlich alles ganz genau abgeklärt mit Hugo Stamm und meiner Verlegerin Gaby Baumann.

Im Buch ist ein Brief, ein Teilgeständnis, von ihm abgedruckt.
MZ:
Ja, und er hat dabei wieder viel verdreht. Hat den Missbrauch als pädagogische Massnahme gerechtfertigt. Was für ein Blödsinn ist das, wenn ein Pädagoge so etwas sagt. Und dabei ist er nicht einmal Sonderpädagoge. Genau genommen ist er «nur» Lehrer. Und ein «Plauderi».
HF: Ja, er redet gerne viel.

In der Öffentlichkeit bekannt wurde Jürg Jegge Mitte der 1970er-Jahre durch sein Buch «Dummheit ist lernbar.»
MZ:
Das Buch hat er geschrieben, weil er im Dorf so schlecht dagestanden ist. Man sagte über ihn, er sei ein schlechter Lehrer, komme den Kindern zu nahe, nehme sie mit nach Hause, gehe mit ihnen übers Wochenende in die Berge, nehme die Buben mit und lasse die Mädchen zu Hause.
HF: Aber niemand hat gewagt, etwas zu sagen?
MZ: Man hat schon darüber geredet. Aber konkret unternommen hat man nichts.

Weder Sie noch die anderen Kinder haben sich getraut, etwas zu sagen?
MZ:
Wir hatten Angst. Er hat behauptet, es handle sich um Therapie. Und er hat uns gedroht: «Wenn du mich anschwärzen willst, kannst du schauen, wo du landest. Dir glaubt man nicht.» Dass er bei uns im gleichen Zimmer und neben uns schläft, haben wir erzählt. Aber niemand hat reagiert.
HF: Als Lehrer hat er Macht gehabt, war eine Respektsperson. Vor 40 Jahren war das üblich.
MZ: Als die Übergriffe angefangen haben, konnte ich sie überhaupt nicht einordnen. Ich war kaum in der Pubertät. In diesem Alter kann man das nicht einschätzen, du hast keine Ahnung, was abgeht, verstehst nicht, was der macht, warum das so eine geheime Geschichte ist, warum man nicht darüber reden darf.
HF: Er hat es ja als Therapie dargestellt.
MZ: Ja. Und es ist verrückt, fast ein Leben lang habe ich das Gefühl gehabt, ich sei im sexuellen Bereich verklemmt, neben der Norm. Jetzt kann ich diesen Rucksack ablegen und sagen: «Ich war normal, aber bei ihm hat etwas nicht gestimmt.»

Bis es soweit war, hat es lange gedauert. Die ganze Geschichte hat Sie bis ins Erwachsenenalter begleitet.
MZ:
Unglaublich lange. Mit 13 wird dir das eingetrichtert … Und jetzt, seit ich darüber spreche, das Buch geschrieben habe, die Leute auf mich zukommen, mich ansprechen, rutscht es plötzlich weg. Es erleichtert mich, macht mich irgendwie auch fröhlich. Eine Fröhlichkeit, die ich so nicht mehr gekannt habe.
HF: Findest du es im Nachhinein nicht schade, dass du mit deiner Frau nie darüber gesprochen hast?
MZ: Natürlich. Ich bedaure das, aber es ist nicht zu ändern.

Und wie ist es, nach so vielen Jahren ins Saanenland zurückzukommen? Sie sind bei der Töpferei vorbeigefahren und nun sitzen wir hier bei Ruben und Heidi Frautschi auf der Terrasse, unweit vom Maiensäss im Turbachtal, wo alles angefangen hat.
MZ:
Ich bin sogar zum Maiensäss gefahren … Ich muss zwei Sachen dazu sagen, die mir wichtig sind. Natürlich, es hat hier im Turbachtal angefangen, aber ich habe hier auch eine ganz gute Zeit gehabt. Ich wurde hier akzeptiert, angenommen und ich «genügte». Ruben und Heidi gehören zu jenen, die mir diese Kraft gegeben haben. Ich habe in der ganzen Geschichte ganz viel Glück gehabt. Ich hatte immer Leute um mich herum, die mich getragen haben.

Markus Zangger, wie sind Sie aufgewachsen?
MZ: Ich hatte ein ganz gutes Elternhaus. Ich hatte einen lieben Vater, eine liebe Mutter. Ich habe keine Geschichten mit Alkohol oder Ehekrach erlebt. Meine Eltern waren einfach überlastet mit dem Geschäft. Voilà.

Und hier im Saanenland`?
MZ: Hier habe ich ein gutes Umfeld angetroffen. Die Leute sind auf mich zugekommen oder ich bin auf sie zugegangen. Ich bin hier selbstbewusster geworden und habe Selbstbestätigung erlebt. Und es war ganz zentral, dass ich weg von ihm war und er mich nur sporadisch «unter seine Fittiche nehmen konnte». Und dann lernte ich bald meine Frau kennen. Ich habe, wie schon erwähnt, immer Leute um mich gehabt, die mich gestützt haben, die mich in den Bahnen gehalten haben. Das hatten viele ebenfalls Betroffene nicht.

Und diese Unterstützung hat Ihnen geholfen, das Buch zu schreiben, die ganze Leidensgeschichte zu verarbeiten. Wissen Sie, wie Ihre Schulkollegen das Leben gemeistert haben?
MZ:
Einige sind abgestürzt, haben Alkoholprobleme. Und es gibt auch solche, die nicht beziehungsfähig sind.

Heidi und Ruben Frautschi: Sie haben über das Buch von den Übergriffen erfahren. Was löst eine solche Nachricht aus?
HF:
Als ich den Namen Markus Zangger gehört habe, war mir klar, dass es sich nur um den Markus Zangger handeln konnte, der vor rund 40 Jahren bei uns gewohnt hatte. Wir sind aus allen Wolken gefallen. Und zu unserer Schande muss ich sagen, dass wir nichts gemerkt haben. Vielleicht, weil es nie hier passiert ist. Wir haben die beiden auch nie zusammen gesehen.
MZ: Er hat mich nie hier abgeholt, sondern mich per Telefon zum vereinbarten Treffpunkt zitiert.
HF: Sexuelle Übergriffe waren damals kein Thema. Heute ist man sensibler. Aber damals wäre mir das nie in den Sinn gekommen.
MZ: Ich bin auch nicht als Sonderschüler hier gewesen, sondern als junger Lehrling. Ich war, glaube ich, ein recht offener Jugendlicher.
HF: Ja, ein ganz normaler Junge.
MZ: Ich habe versucht, meinen Weg zu finden. Hier. Und alles andere auf der Seite zu lassen, zu verdrängen. Und es war hier auch alles so anders und das hat mir die Möglichkeit gegeben, meinen neuen Weg zu suchen.

Weshalb hat man Sie ins Saanenland umplatziert?
MZ:
Ich steckte damals in einer Verwirrung – verursacht durch den Missbrauch –, wusste nicht mehr, wer ich bin, als ich mich für eine Lehrstelle hätte entscheiden müssen. Dann war es schon die Idee von Jürg Jegge, dass ich hier oben noch ein zehntes Schuljahr machen könnte bei Kurt Gerber. Damit ich nicht mehr Sonderschüler sei und dass ich von zu Hause wegkomme. Weil meine Eltern ja «so schlecht» seien.

Er hat Sie von Ihren Eltern weggebracht an einen Ort, wo er Beziehungen hatte.
MZ:
Richtig. Heute vermute ich, dass es Berechnung war. Mir war damals aber nicht bewusst, dass er mit der Umplatzierung quasi ein «Opfer» hier oben hatte. Apropos bewusst: Als Schüler unterstellst du einem Lehrer eine schlechte Behandlung wie Pädophilie gar nicht. Du glaubst gar nicht, dass ein Mensch so egoistisch sein kann.

Sie waren erst 14½-jährig, als Sie Ihr Elternhaus verlassen haben.
MZ:
Ja, das ist sehr früh, aber in meinem Fall war das gar nicht so schlecht, weil ich auf ein gutes Umfeld getroffen bin.
HF: Und du warst doch ein bisschen weiter weg von ihm.
MZ: So ist es. Und dann ergab sich die Möglichkeit, eine Töpferlehre in Saanen zu absolvieren.

Sie haben die Lehre nicht aus Überzeugung gemacht. Töpfern Sie noch?
MZ
(lacht): Nein, gar nicht.

Heidi Frautschi, Sie kennen Jürg Jegge persönlich?
HF:
Ich kenne ihn seit Jahren. Er hat im Turbach geheiratet und die beiden haben uns ab und zu besucht.
MZ: Wie habt ihr sie kennengelernt?
HF: Das muss während Rubens Theaterzeit im Turbach gewesen sein. Dann war er in der Vorschess im Turbach und ist ab und zu hier aufgetaucht. Vor zwei, drei Jahren habe ich ihn zum letzten Mal getroffen. Er hatte uns angerufen und wir haben uns in Thun zum Mittagessen getroffen. Vorher hatten wir keinen Kontakt mehr.

Markus Zangger, hat er dann schon gewusst, dass Sie ein Buch schreiben?
MZ:
Das ist die ganz spannende Frage. Vor drei Jahren hat er gewusst, dass ich ihm auf der Spur bin.

Vielleicht wollte er erfahren, ob Heidi Frautschi etwas weiss.
MZ:
Das könnte sein.
HF: So weit ich mich erinnere, haben wir über Banalitäten gesprochen.

Früher war man offenbar wenig sensibilisiert, heute scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Ein Lehrer darf einen Schüler kaum mehr berühren, ohne verdächtigt zu werden.
MZ:
Es gibt in der Schweiz Leute, die pädophil sind und nur etwa die Hälfte wird pädokriminell, also übergriffig. Es gibt aber schon ganz klare Indikatoren, die auf einen Übergriff schliessen lassen und darüber spricht man meiner Meinung nach heute zu wenig.

Und was sind das für Indikatoren?
MZ: Ich weiss, wie ich reagiert habe. Ich habe mich immer entzogen, wenn er mir nahe gekommen ist. Wenn sich ein Kind entzieht, wenn jemand den privaten Rahmen, die Nähe zu ihm so forciert, sind das Indikatoren, die man beachten muss. Man darf einen Schüler berühren, darf ihm auf die Schulter klopfen, wenn er etwas gut gemacht hat.
HF: Ein Bekannter von uns – ein Lehrer – hat erzählt, dass ihm die Kinder früher schon mal auf den Schoss «graagget» sind. Heute wäre man vorsichtig.
MZ: Wenn es vom Kind ausgeht, ist es etwas ganz anderes. Ich habe mich zu Jegge nie hingezogen gefühlt. Ich habe auch nie erlebt, dass ein Kind von sich aus zu ihm auf den Schoss gesessen ist.
HF: Im Nachhinein mache ich mir schon Gedanken, dass es uns nie in den Sinn gekommen ist, dass er pädophil sein könnte. Aber wir haben ihn auch nie erlebt mit Kindern.
MZ: Wir haben uns geschämt. Und wir hätten alles gemacht, um ja nicht in Verdacht zu geraten, schwul zu sein. Ich habe sogar meine Mutter «fadegrad» angelogen. Dabei hatte ich ja kein schlechtes Verhältnis zu ihr.

Weshalb haben Sie Ihre Mutter angelogen?
MZ:
Sie hat mich gefragt: «Was läuft da?» Ich sagte: «Nichts!»
HF: Sie hat direkt gefragt?
MZ: Ja, sie hat etwas geahnt. Sie hat gemerkt, dass ich auf stur stelle. Heute bin überzeugt, dass sie gewusst hat, dass etwas nicht stimmt..

Heidi Frautschi, im Buch heissen Sie beide Klara und Ruedi. Wie haben Sie reagiert?
MZ
(lacht): Der Name Klara gefällt ihr nicht …
HF (lacht ebenfalls): Mein erster Gedanke war: «Geits däm no?» Ruedi gefällt mir, aber Klara ….
MZ: Wir haben mit Absicht die Namen geändert, nicht, dass ihr noch angesprochen werdet.
HF (lacht schallend): Das hat nichts geändert. Hier haben natürlich alle sofort gewusst, dass wir gemeint sind. Postautochauffeur und Lehrerin, am Fuss vom Wasserngrat …
MZ: Ich hoffe nicht, dass es für euch jetzt unangenehm ist.
HF: Nein, gar nicht. Kein Mensch hat uns darauf angesprochen. Aber wir sind wie schon erwähnt aus allen Wolken gefallen. Ich war schon etwas beschämt, dass mir nichts aufgefallen ist.
MZ: Was hätte dir das genützt? Du hättest mir auch nicht helfen können.
HF: Wir sind ja auch gut weggekommen im Buch. Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn dem nicht so wäre.
MZ: Der Aufenthalt hier bei euch war für mich sehr positiv. Neben euch beiden gab es noch eine ganze Reihe Personen, die für mich sehr wichtig waren. Zum Beispiel meine Gasteltern Kurt und Frieda Gerber, Monika Vollenweider oder Peter Germann. Er hat gleichzeitig mit mir die Töpferausbildung gemacht. Ich habe ihn übrigens schon zweimal in Boltigen besucht.

Sind Sie noch in Kontakt mit Jürg Jegge? Wissen Sie, wie es ihm geht nach all dem?
MZ:
Ich weiss es nicht und es interessiert mich auch nicht so sehr. Ich will ihn nicht sehen und ich will nicht mit ihm reden. Er hat mich 30 Jahre angelogen.
HF: Ich habe auch keine Lust, ihm noch einmal zu begegnen. Ruben – er war und ist ja nicht sehr gesprächig – hat ein Wort gesagt, als er davon erfahren hat: «Suhund».
Ruben Frautschi: Wir haben mit Markus eine schöne Zeit gehabt.
MZ: Ja, wir hatten eine schöne Zeit. Ich erinnere mich so gut, wie Ruben mir jeweils zugehört hat, er hat Vertrauen ausgestrahlt. Ich konnte erzählen und ab und zu hat er etwas dazu gesagt. Ich fühlte mich immer verstanden von Ruben.
HF: Nur das mit Jürg hast du nicht erzählt.
MZ: Natürlich habe ich das nicht erzählen können.

Herr Zangger, man spürt, Sie erinnern sich gerne an die Zeit im Saanenland, an das 10. Schuljahr in Schönried, an die Lehrzeit, an die Zeit bei Ruben und Heidi Frautschi. Sie waren ein geselliger Typ, haben sich engagiert beim Theater im Schulhaus Turbach, als Bademeister im Hallenbad, beim SAC usw. Sie kennen noch viele Namen, Anekdoten, Begebenheiten.
MZ:
Ich habe hier so viele Leute kennengelernt, die mir wohlwollend gesinnt waren. Leute, die ich im Dorf kennengelernt habe, beim SAC, im JZ im Sekundarschulhaus. Oft haben wir uns im «Chez Esther» getroffen. Damals hatte man noch keine Natels, sondern musste mündlich abmachen … Es war alles in allem eine schöne Zeit.

Markus Zangger, Heidi und Ruben Frautschi: vielen Dank für das angeregte Gespräch und für Ihre Offenheit.


ZUR PERSON

Markus Zangger ist 1958 geboren. Er wuchs als jüngstes von fünf Geschwistern in Embrach auf, wo seine Eltern eine Champignonzucht betrieben. Nach seiner Schulzeit machte er eine Töpferlehre in Saanen, später wurde er Bühnenmeister und heute arbeitet er in einem Betrieb des öffentlichen Verkehrs. Markus Zangger ist verwitwet, Vater einer erwachsenen Tochter und lebt im Zürcher Unterland.
Sein Buch «Die dunkle Seite von Jürg Jegge» ist im Wörtherseeverlag erschienen. Es ist in allen Buchhandlungen erhältlich.

Print ISBN 978-3-03763-080-0
E-Book ISBN 978-3-03763-623-7
 

«DIE DUNKLE SEITE VON JÜRG JEGGE»

Markus Zangger war ab seinem zwölften Lebensjahr bis zum Erwachsenenalter Opfer von sexuellem Missbrauch. Er hat sich nie jemandem anvertraut, weder seinen Eltern oder Geschwistern, noch seiner Frau oder seiner Tochter. Nach dem frühen Tod seiner Frau Doris im Jahr 2009 hat er angefangen, Tagebuch zu schreiben. Durch das Schreiben sei ihm allmählich bewusst geworden, dass sein ehemaliger Lehrer ihn bis ins Erwachsenenalter nicht therapiert, sondern massiv sexuell missbraucht habe. Als er das Gespräch mit ehemaligen Klassenkameraden gesucht habe, sei ihm klar geworden, dass auch sie Opfer gewesen seien. Damit war sein Entschluss gefasst: Er wollte nicht mehr schweigen, sondern das Unfassbare beim Namen nennen. «Für mich, aber auch, um jenen Opfern von Jegge eine Stimme zu geben, die bis heute schweigen.» Sein Buch «Die dunkle Seite von Jürg Jegge» hat für grosses Aufsehen gesorgt. Der Beschuldigte selber sieht sich nicht als Täter. In einem Brief, der im Buch abgedruckt ist, bezeichnet er den «Tabubruch als Mittel der Befreiung».

ANITA MOSER

 


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