Suizid als freie Entscheidung?

  19.09.2017 Leserbeiträge, Leserbriefe

Der Suizid einer beliebten Person erschüttert zurzeit das Saanenland und weit darüber hinaus. Es ist unglaublich traurig, dass ein noch junger Mensch keine andere Lebensmöglichkeit mehr gesehen und diesen Weg gewählt hat.

Ich arbeite seit vielen Jahren mit Menschen in Krisen und psychischen Ausnahmezuständen und es ist mir ein persönliches und berufliches Anliegen, einige Gedanken zum Thema Suizid hier auszuführen: Suizidalität und Suizid sind nach wie vor tabuisiert in unserer Gesellschaft, weil häufig Schuld und Scham damit verbunden sind. Tritt ein Suizid ein, überwältigt und bewegt er uns alle, weil er so radikal und definitiv ist. Die Frage, die zurückbleibt, ist die Frage nach dem «Warum», aber auch die Frage, ob ein Suizid tatsächlich als freie Entscheidung angesehen werden kann.

Eines ist klar: Die Verantwortung für das Leben eines erwachsenen Menschen kann niemand anderes übernehmen als die Person selber. Dies können auch die Angehörigen oder Freunde und Bekannte nicht. Es gilt hier, keine Schuldigen ausfindig zu machen und Beschuldigungen sind fehl am Platz. Denn: Aus der Suizidforschung wissen wir, dass suizidale Menschen in ihrem Ausnahmezustand nicht mehr erkennen, was ein solcher Entscheid für die nahestehenden Personen bedeutet und welches Leid damit verbunden ist, keine Fragen mehr stellen zu können und einfach akzeptieren zu müssen. Vielmehr sind Gedanken vorherrschend, keine Belastung mehr für die Angehörigen sein zu müssen bzw. diese entlasten zu wollen.

Aus der Forschung wissen wir weiter, dass bei ca. 80 % aller Menschen, die sich suizidieren wollen, der Gedanke daran vielleicht zwar schon länger in ihnen präsent ist, aber ein definitiver Entschluss erst ca. zwei Stunden vor der Tat gefällt wird. Nach diesem verfallen die Menschen in eine Art «Trance», das Hirn schaltet auf Autopilot, sie wirken ruhig und das immense Leiden ist nicht mehr offensichtlich erkennbar.

Wir wissen auch, dass die allermeisten Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben, nicht wirklich sterben wollten, sondern dem Leiden, das untragbar schien, ein Ende setzen wollten bzw. keine Lebens-Alternativen mehr gesehen werden konnten. Menschen mit Suizidabsichten sind dermassen im Hier und Jetzt eingesperrt, dass nicht von echter freier Entscheidung gesprochen werden kann.

Ebenfalls als gesichert gilt, dass Suizide Nachahmungseffekte auslösen können und gerade deshalb ist es wichtig, dass wir einen Suizid zwar als Lösungsversuch aus einer hoffnungslosen Situation verstehen, wir aber auch aufzeigen müssen, dass es echte Alternativen zum Suizid gibt: Leute sollen sich trauen können, über ihre Probleme zu sprechen und diese mitteilen und eingestehen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, ins Abseits zu gelangen oder gesellschaftlich abgestempelt zu werden.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die ihren Teil dieser Verantwortung übernimmt und wir alle uns überlegen und bewusst machen, wie wir mit Krisen, Problemen, Schwächen oder psychischen Störungen umgehen, dass wir diese nicht nur als «ein Problem des Anderen» betrachten, sondern helfen, sie zu enttabuisieren. Nur so kann ein Vertrauen aufgebaut werden, dass auch für unperfekte Seiten des Lebens Platz bestehen darf und der individuelle Mut aufgebracht werden kann, neue, andere lebenswerte Wege zu wagen.

KARIN GFELLER GREHL,

EIDG. ANERKANNTE PSYCHOTHERAPEUTIN, ZSB BERN


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