Unterricht am Puls der Literatur

  12.09.2017 Schule, Vorschau

Wer sich unter Deutschunterricht am Gymnasium die ausschliessliche Auseinandersetzung mit Goethe und Schiller vorstellt, liegt falsch. Die deutschsprachige Literaturgeschichte beginnt im Mittelalter, schreibt sich jedoch weiter – bis heute und morgen. Interessante aktuelle Autorinnen und Autoren lädt das Festival «Literarischer Herbst» ins Saanenland ein und trägt so das zeitgenössische Schreiben vor und ins Klassenzimmer.

Ein Höhepunkt des Literaturunterrichts am Gstaader Gymnasium stellt die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Texten und die Begegnung mit den Autoren und Autorinnen am Festival «Literarischer Herbst» dar. Für die diesjährige Veranstaltung hat jede Klasse ein Buch gelesen. Im folgenden stellen die Klassen Prima 18s und Sekunda 19s einen österreichischen und einen welschen Roman vor.

Vorgestellt: Stefan Slupetzky «Der Fall des Lemming»
Der 1962 in Österreich geborene Stefan Slupetzky ist ein vielseitiger Künstler: Von 1981 bis 1990 studierte er an der Akademie der bildenden Künste in Wien, spielte Saxophon und war auch als Schauspieler tätig. Seit 1991 widmet er sich ausschliesslich dem Schreiben. 2004 verfasste er den Roman «Der Fall des Lemming – Eine Wiener Mordgeschichte», für den er ein Jahr später den Friedrich-Glauser-Preis verliehen bekam und welcher 2008 verfilmt wurde. Es folgten drei weitere Lemming-Werke, die ebenfalls ausgezeichnet wurden. Heute steht Slupetzky ausserdem als Texter und Sänger der Wienerliedcombo Trio Lepschi auf der Bühne.

Das Werk
Leopold Wallisch, auch Lemming genannt, lernt die Leserschaft als empathischen Mann kennen. Nachdem er seine Arbeitsstelle aufgrund seines schikanierenden Vorgesetzten bei der Wiener Kriminalpolizei verloren hat, ereignet sich ein mysteriöser Mordfall auf dem Kahlenberg. Für dessen Aufdeckung nimmt Lemming den Wettlauf gegen den hasserfüllten früheren Chef Krotznig in Kauf.

Die Ermittlungsarbeit führt den ehemaligen Polizeibeamten u.a. zu Menschen, die viel Leid, Ungerechtigkeiten und Unmenschliches erfahren haben. Wiens nationalsozialistische Vergangenheit, Amtsmissbrauch und die verheerenden Erziehungsmethoden eines Gymnasiallehrers sind Teil dieses gesellschaftskritischen Panoramas.

KLASSE 18S/URSULA MOULIN)

Die Klasse kommentiert
Stefan Slupetzky gelingt mit dem «Fall des Lemming» ein anregender Cocktail aus Kriminalgeschichte und Komödie, die in ihr den Ernst und die Komik des Lebens vereint. Wir folgen Leopold Wallisch durch ein spannungsgeladenes Wien und sehen ihm dabei zu, wie er mit aller Macht versucht, den Fängen seines sadistischen Kollegen zu entkommen und den Mord an einem Lateinlehrer aufzuklären.

SOLOMON GANTER/NICOLA BUCHS
 

Der Kriminalroman zeigt in den verschiedenen Beziehungen eine feine Gratwanderung zwischen hasserfüllter Menschenfeindlichkeit und Humanismus. So wird beispielsweise der bösartige, rassistische Bezirkskommissar Krotznig als Antagonist zum gutmütigen, menschenfreundlichen Lemming dargestellt. Die im Vordergrund liegenden Themen wie Neid, Feindschaft, Hass und Liebe werden durch einen ausgeprägten Humor gefärbt, ohne dass dabei die Ermittlung des Mordfalles in den Hintergrund gerückt wird. Im Gegenteil: Die Spannung wird bestens aufrechterhalten und lässt das Lesen zu einem einmaligen und aufregenden Ermittlungsabenteuer werden.

ANOUK SCHNIDRIG


Slupetzky webt in seinen Roman Lebensgeschichten von Figuren ein, die nicht direkt mit dem Fall in Verbindung stehen. Sie arbeiten Aspekte der historischen Vergangenheit Österreichs auf, die ein kritisches Licht auf die Gesellschaft werfen.»

NOEMI FEHR/JOËLLE ZINGG


Vorgestellt: Noëlle Revaz «L\\'infini livre»

Noëlle Revaz wurde 1968 in Vernayaz in der Nähe von Saint-Maurice geboren. Sie studierte Latein und Altfranzösisch an der Universität Lausanne und begann ihre Karriere mit dem Verfassen von Radio-Hörspielen. Ihr erster Roman «Rapport aux bêtes» erschien 2002 und ist bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden. Nebst dem Schillerpreis ist Revaz mehrfach ausgezeichnet worden. Für den Roman «L’infini livre» erhielt die Autorin den Schweizer Literaturpreis 2015.

Das Werk
Niemand liest mehr Bücher. Romane werden erzeugt mit Hilfe von komplexen Algorithmen und Wortdatenbanken. Autoren treten in Talkshows auf, in welchen die Buchcovers endlos diskutiert werden. Das Öffnen und Lesen der Bücher ist ein gesellschaftliches No-Go. Zwei Literaturstars, Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi, die sich äusserlich und vom Namen her sehr ähneln, erfahren von einer Neuerscheinung der Autorin Joeanna Fortunaggi. Wird diese Zusammenarbeit die Gesellschaft verändern?

KLASSE 19S/ANDRÉ NOBS

Die Klasse kommentiert

Dieser Roman regt mit verschiedenen Aspekten zum Nachdenken an. Teilweise scheint es, als schildere er unsere Zukunft, kurz zusammengefasst auf 314 Seiten. Die Individualität verliert an Bedeutung, der Schein und nicht das Sein zählt. Die Schwierigkeit im Umgang mit Medien und der digitalisierten Welt wird aufgezeigt. So hat uns zum Beispiel die Vorstellung, unsere Freunde per Internet auswählen zu müssen, beschäftigt. Die Beziehungen der Menschen basieren nicht auf Sympathie, sondern auf Ansehen und Prominenz. Es gibt keine wirkliche Liebe oder echte Emotionen, denn alles wird für die Medien inszeniert.


Das unendliche Buch beinhaltet viel Ironie. So werden die Autorinnen Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi als Berühmtheiten dargestellt. Die Gesellschaft verwechselt die beiden zusehends, bis sie schliesslich nur noch als eine Person leben und wahrgenommen werden. Sie veröffentlichen ein gemeinsames Buch. Wir finden diese Idee raffiniert sowie auch die Tatsache, dass im Werk Rivaz\\' nur das Produkt «Buch» mit seinem Deckel und seiner Aufmachung zählt, jedoch nicht sein Inhalt. Den kennen weder die Autorinnen, noch die Leser/innen.

KLASSE 19S/ANDRÉ NOBST

Literarischer Herbst Gstaad von Donnerstag, 14. bis Sonntag, 17. September

www.literarischerherbst.ch


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