Demokratie auf abschüssigem Gelände

  29.12.2017 Leserbeitrag

Die Demokratie ist historisch gesehen eine Ausnahme und eine junge Erscheinung. Es ist nicht in Stein gemeisselt, dass demokratische Staatsformen den Endpunkt der Geschichte darstellen. Vielleicht bleibt das Erbe der Aufklärung gar eine blosse Episode in der Menschheitsgeschichte. Jedenfalls gibt es weltweit Zerfallserscheinungen grundlegender demokratischer Werte, die Grenzen zwischen Autoritarismus und Demokratie sind bereits ziemlich unscharf geworden. Ob in Indien oder der Türkei, in Ungarn, Polen oder Russland und in Ansätzen auch in den USA: Überall macht sich, in unterschiedlicher Stärke und Ausprägung, ein zwar durch Wahlen abgestützter, aber nationalistisch unterfütterter Autoritarismus breit. Es sind Staaten, die die Bedeutung des eigenen Volkes, der eigenen Nation demonstrativ über alle anderen stellen. Sie tun das, indem sie den politischen Pluralismus einschränken. Sie rütteln an demokratischen Institutionen und stellen Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Medienfreiheit in Frage. Sind diese klassischen Pfeiler der Demokratie einmal morsch, hat der Autoritarismus leichtes Spiel.

Auch im westlichen Europa verbreiten rechtsnationalistische Parteien und Bewegungen das Gift des Autoritarismus. Österreich hat seit zwei Wochen einen Vizekanzler mit rechtsextremer Vergangenheit. Aufhorchen lässt auch die Entwicklung in Deutschland: Die bisher stabile Bundesrepublik steht – seit den Wahlen vom September 2017 und nach dem Einzug der «Alternative für Deutschland» in den Bundestag – geschwächt da: Die politische Zersplitterung macht das Regieren immer schwieriger. Auch drei Monate nach den Wahlen sind die Machtverhältnisse in Berlin ungeklärt. Das ist besonders fatal, weil Deutschland die wichtigste europäische Führungsmacht und ein demokratisches Bollwerk ist. Es wird nicht in sich zusammenstürzen, wie die Weimarer Republik zu Beginn der Dreissigerjahre des 20. Jahrhunderts. Aber etwas beunruhigend ist das Gespenst eines unregierbaren Deutschland schon. Die Gründe, weshalb viele Demokratien krisenanfällig geworden sind, sind vielfältig und länderspezifisch. Doch es gibt weltweite Entwicklungen, welche für die Demokratie heikel sind: die wirtschaftliche Globalisierung ohne wirksame politische Leitplanken und die sozialen Ungleichgewichte. Demokratie funktioniert nicht ohne breit gestreuten Wohlstand, gesunde Mittelschichten und ein Mindestmass an Gleichheit in wichtigen Lebensbereichen. Geraten diese Säulen ins Wanken und verschärft sich die aktuelle Modernisierungskrise – Stichworte Digitalisierung und Automatisierung – beginnen sich breite Bevölkerungskreise zu radikalisieren. Die Wahlresultate in den USA, in Deutschland und Österreich zeigen dies deutlich.

Die für stabile Demokratien wichtigen Mittelschichten geraten wegen sozialer Ungleichgewichte weltweit unter Druck. Die Welt befindet sich in einer Steuersenkungsspirale, die in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts begonnen und die Unternehmenssteuern seither weltweit halbiert hat. Jüngstes und spektakulärstes Kapitel: Donald Trumps Steuerreform. Ein teures Weihnachtsgeschenk, das letztlich vor allem die Mittelschichten und die Sozialbezüger zu berappen haben, ein gigantisches Umverteilungsprojekt von unten nach oben. Trumps Gegner, die US-Demokraten, bezeichnen die Steuerreform als «Diebstahl der Plutokratie am amerikanischen Volk». In dieses Bild passt es, dass Milliardäre und ganz speziell die grossen Rohstoff-, Technologie- und Internetfirmen mit Geldwäsche, Steuersplitting und Offshore-Konstrukten in grossem Stil Steuervermeidung und Steuerhinterziehung betreiben, wie die Panama Papers und die Paradise Papers jüngst gezeigt haben.

Wenn die Reichsten die Schlupflöcher der globalisierten Finanzindustrie nutzen und damit soziale Ungleichgewichte krass verschärfen, dann regt sich kaum Widerstand. Wenn die zum Teil in der Schweiz domizilierten Rohstoffkonzerne im Verbund mit korrupten und diktatorischen Regimes Heerscharen von Menschen in Afrika ausbeuten, ist hierzulande kein Massenprotest zu gewärtigen. Wenn aber Migrantinnen und Migranten zu den Wohlstandsinseln der Welt strömen – eine direkte Folge der Ausbeutungspolitik und des entfesselten Finanzkapitalismus –, dann regt sich rasch Unmut. Dann erschallt der Ruf nach Grenzschliessung, nach Mauern, nach Abschottung. Diese fremdenfeindliche, billige und zynische Symptomtherapie der Rechtsnationalen ist leider politisch leichter zu vermitteln als die komplexeren Zusammenhänge. Denn nicht die Migranten gefährden den für die Demokratien wichtigen breit gestreuten Wohlstand, sondern die weltweit wachsenden sozialen Ungleichgewichte.

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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