«Es ist an der Zeit, das Amt abzugeben»

  12.12.2017 Gstaad

Ende Jahr geht Thomas Müller, Pfarrer der katholischen Kirchgemeinde Gstaad, in den wohlverdienten Ruhestand. Am Sonntag fand in der Kirche St. Josef in Gstaad der Abschiedsgottesdienst statt.

ANITA MOSER
Wenn jemand von einem Amt zurücktrete, gebe es drei mögliche Varianten, sagte Pfarrer Thomas Müller in seiner Sonntagspredigt. «Bei der ersten Variante spürt der Amtsinhaber, dass es Zeit ist, abzutreten, die Leute um ihn herum hingegen haben eher das Gefühl, es ginge noch weiter. Bei der zweiten Variante spürt es der Amtsinhaber – und es spüren auch die anderen: es wäre Zeit, abzutreten. Bei der dritten Variante spüren es nur noch die Leute, der Amtsinhaber selber merkt es nicht mehr.» Und welche Variante trifft auf ihn zu? «Ich selber spüre auf jeden Fall ganz deutlich, dass es nun Zeit ist, das Amt abzugeben.» Diesmal verlasse er eine Pfarrstelle ohne dabei auf eine neue pastorale Aufgabe vorausschauen zu müssen. «Ich trete in den Ruhestand.» Gut zehn Jahre war Thomas Müller Pfarrer der Pfarrei Gstaad – diese ist gross, sie zählt fast 3000 Mitglieder und erstreckt sich vom Saanenland bis ins Obersimmental. Man mag ihm den Ruhestand gönnen. Und das ist ihm wichtig. Er sei sehr dankbar, dass er im Guten weggehen könne. Es sei ein Abschied in gelöster Stimmung, was keine Selbstverständlichkeit sei. «Wir sind miteinander eine gute Wegstrecke gegangen. Ich bin von aussen in diese Pfarrei gekommen und es war immer klar, dass wir für eine bestimmte Zeit den Weg gemeinsam gehen.» Nun sei der Abschied da. «Befreit mich von den Erwartungen, die ihr an mich hattet, von den Erwartungen, die ich erfüllen konnte und von jenen, die ich nicht erfüllen konnte», bat Thomas Müller die Mitglieder der Pfarrei. «Tragt es mir nicht lange nach, dass ich als Mensch, als Priester und Pfarrer auch meine Schwächen und Grenzen habe, die ich sehr wohl kenne. Lasst mich gehen und gebt mir etwas mit von eurem Segen. Das wird eine gute Voraussetzung sein, dass mir auch der nächste Lebensabschnitt gelingen kann.» Wenn er die Pfarrei verlasse, werde er vieles zurücklassen, aber die kostbaren Erfahrungen mit Menschen würden ihn begleiten.

Zurücklassen wird er viele Menschen, die ihm zwar den Ruhestand gönnen, ihn aber trotzdem ungern ziehen lassen. «Ich habe dank ihm zur Kirche zurückgefunden», sagte der eine oder die andere im Anschluss an den Gottesdienst. «Er nimmt alle Menschen an, wie sie sind. Diese Wertschätzung gegenüber allen Mitmenschen zeichnet ihn besonders aus», betonte ein Gemeindemitglied.

Engagement und Herzblut
Für die Pfarrei war Thomas Müller ein Glücksfall, wie Ratspräsident Urs Kühne betont. Thomas Müller hat die Pfarrei nach zweijähriger Vakanz am 1. August 2007 übernommen. Er habe bei seinem Amtsantritt nicht mehr sehr viel von einer intakten Pfarrei angetroffen. Doch dessen sei er sich vorgängig bewusst gewesen und er habe sich dadurch weder erschüttern noch ermutigen lassen, im Gegenteil, so Kühne. Voller Tatendrang und unbeirrt habe er die nicht einfache Aufgabe in Angriff genommen, die Kirchgemeinde und die Pfarrei Schritt für Schritt auf den nur noch wenig vorhandenen Strukturen wieder aufzubauen und soweit zu bringen, wie sie heute bestehe. Er sei eine treibende Kraft gewesen und habe mit seinem Team erreicht, dass im August 2013 der Pastoralraum Berner Oberland als einer der ersten im Bistum Basel offiziell habe errichtet werden können. Thomas Müller habe unermüdlich und mit Freude alle seine Aufgaben für die Kirchgemeinde erfüllt und dabei auch einige neuen Ideen umgesetzt. «So zum Beispiel die Gründung der Frauengemeinschaft.» Mit seinen vielen Ideen habe er auch den Kirchgemeinderat ziemlich gefordert. «Es war jedoch immer eine sehr gute, interessante und schöne Zusammenarbeit», bekräftigte Kühne.

Zügelkiste statt Rucksack
Thomas Müller hinterlasse im Saanenland und Simmental sehr viele Spuren und eine wunderbare Pfarreikultur und -struktur, welche seinem Nachfolger den Start um vieles erleichtern werde, zeigte sich Kühne überzeugt. Anlässlich der Einsetzungsfeier habe er ihm einen Rucksack mit Spezialitäten von den drei Gottesdienstorten Gstaad, Zweisimmen und Lenk überreicht. Zum Abschied gab es erneut Geschenke aus der Region, dieses Mal als Stärkung für den bevorstehenden Umzug und diese statt im Rucksack in einer Zügelharasse.

«Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.» Im Sinne dieses Zitates von Albert Einstein «entlassen wir dich in deine Zukunft, wünschen dir alles Gute und hoffen, dass du viele Dinge nachholen kannst, welche du in deinem Arbeitsleben nicht oder weniger machen konntest», sagte Urs Kühne. Thomas Müller kennengelernt zu haben, sei für alle eine Bereicherung gewesen und alle würden sich freuen, ihn auch in der Zukunft wieder mal zu treffen, schloss der Präsident seine kurze und prägnante Abschiedsrede.

Beeindruckt von den Begegnungen
Ende Jahr wird Thomas Müller die Zügelkisten packen. Er sei schon am Aufräumen, sagte er. Beim Ausmisten und Wegwerfen sei ihm seine erste Predigt in die Hände gefallen. Diese habe er fast auf den Tag genau vor 40 Jahren, im Advent 1977, in der grossen Maihofkirche in Luzern anlässlich eines Praktikums am Ende seiner Ausbildung halten müssen. Er habe nun die Predigt wieder durchgelesen. Sein Kommentar «du meine Güte» sorgte für verständnisvolles Schmunzeln bei den Gottesdienstbesuchern. Auch wenn er die letzten 40 Jahre durchgehe, sage er ein paar Mal «du meine Güte» oder «Herr, erbarme dich».

Er nehme die Begegnungen mit den Menschen mit, antwortete er im Anschluss an den Gottesdienst im Gespräch mit dem «Anzeiger von Saanen». Er sei auch immer wieder beeindruckt von den Lebensgeschichten, welche ihm die Mitmenschen anvertrauten. «Wie sie ihr Leben bestehen, wie sie Belastungen aushalten, wie sie Herausforderungen meistern.» Und was wünscht er der Kirchgemeinde? «Für jedes Gemeinwesen, auch für das politische Gemeinwesen, ist es keine einfache Zeit und ich wünsche der Kirche, dass sie den Weg findet, als Gemeinschaft miteinander in die Zukunft zu gehen.»

Eine multinationale Gemeinschaft
Sehr gefreut habe ihn, wenn eine gewisse Verbundenheit zum Ausdruck gekommen sei, auch jene zwischen den Tälern. Es hätten immer mal wieder gemeinsame Anlässe stattgefunden, mal im Saanenland, mal im Simmental und die Leute hätten den Weg auf sich genommen. Viel bedeutet ihm auch die Verbundenheit mit Menschen anderer Nationalitäten. Auch am Abschiedsgottesdienst haben Besucher aus mindestens sieben Nationen teilgenommen – aus der Schweiz, aus Polen, der Slowakei, Kroatien, Portugal, Italien und von den Philippinen. Viele von ihnen leben und arbeiten in der Region. Im Interwiew im aktuellen Pfarrblatt äussert sich der gebürtige Luzerner wie folgt: «Gstaad ist ein reicher Ort, oftmals geht aber vergessen, dass es ganz viele Menschen braucht, um die Chalets zu bauen, in den Hotels zu putzen und die Teller zu waschen.» Es sei für ihn oftmals beschämend und es mache ihn sehr nachdenklich, wie diese Menschen behandelt würden. Die Kirche müsste viel mehr den Mut haben, die Stimme zu erheben.

Er sei in den gut zehn Jahren «sicher kein Einheimischer geworden», betonte er im Gespräch mit dieser Zeitung, was aber weder als Klage noch als Kritik gemeint sei. «Ein Pfarrer kommt meistens von aussen und er geht meistens auch wieder.» Und das habe durchaus nicht nur Nachteile, so Müller. «Ich meine sogar, eine gewisse Fremdheit, eine gewisse Distanz gehört zum Amt des Pfarrers.» Wie für andere Berufe auch, zum Beispiel jenen des Journalisten. Auch dieser könne nicht Kumpel sein von allen.

Anschliessend an den Gottesdienst waren alle im Pfarreisaal zum Suppenzmittag eingeladen.


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