Das Bild von Panchito

  09.01.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER
Sowohl in den letzten Bolivienspalten als auch während meiner Lesereise Ende November 2017, die nicht nur aus der Lesung über «Werner Guttentag», sondern auch aus einem Vortrag mit Lesung über unser Projekt im Landhaus Saanen und im Oberstufenzentrum Ebnit bestand, war das Thema «Malen und Maltherapie», wie auch alle anderen künstlerischen Aktivitäten von Tres Soles unter anderem Gegenstand meines Vortrags über «Tres Soles». Mit nachfolgender Geschichte möchte ich gerne dieses Thema abschliessen.

Zu dem Zeitpunkt, als ich begann, mich mit Maltherapie zu beschäftigen – ich habe in den letzten Bolivienspalten bereits über dieses Thema berichtet – fand ich auf dem Tisch, an dem die Kinder von «Tres Soles» zusammen mit einer Erzieherin ihre Hausaufgaben machen, eine Zeichnung, die mir förmlich ins Auge sprang. Da steht, bis zu den Hüften im Wasser, ein Kind mit einem überproportionierten, ballonförmigen Kopf, auf dem ein viereckiger Hut sitzt. Der Kopf hat keine Haare und keine Ohren, das Gesicht keine Nase und keinen Mund, nur zwei ebenfalls übergrosse, gelbe Augen, die wie erschrocken und weit aufgerissen in die Welt starren. Die Augen sind in der unteren Hälfte blau ausgemalt, gerade so, als wären sie mit Tränen gefüllt. Unter dem Hut liegen zwei grüne Kugeln, nur ein wenig kleiner als die Augen. In den Händen, die armlos und eng am grau angemalten Körper liegen, hält das Kind ebenfalls zwei grüne Kugeln, die dieselbe Grösse wie die unter dem Hut haben. Ein Arm, der jedoch wieder ausgelöscht wurde, zeigt weit ausgestreckt nach links und ist mit so viel Kraft gezeichnet worden, dass die eingedrückten Linien noch zu sehen sind.

«Wer hat das gezeichnet?», fragte ich. «Ich», antwortete Panchito, der Jüngste von »Tres Soles», der gerade erst sechs geworden war und eifrig an einem neuen Bild malte. «Das ist aber eine schönes Bild», sagte ich zu ihm, ehrlich überrascht davon. «Nimm es nur mit, ich schenke es dir», erwiderte er, als er mein Interesse sah. Panchito war erst ein paar Monate zuvor mit seinen beiden älteren Schwestern Carla, zwölf Jahre alt, und Dalma, zehn Jahre alt, zu »Tres Soles» gekommen. Sie hatten, wie die meisten Kinder und Jugendlichen von »Tres Soles», eine traurige Geschichte hinter sich. Ihre Mutter war Alkoholikerin und konsumierte schon als 14-Jährige Schnüffeldrogen. Die Kinder stammten von verschiedenen Vätern. Zusammen mit ihrem letzten Lebenspartner stahl sie auf einem Parkplatz Autoteile von Wagen, die dort parkten, und verkaufte sie auf dem Schwarzmarkt. Während einer Geburtstagsfeier zu Hause – es war ein Haus, in dem sie alle zur Miete wohnten –, als die Erwachsenen, wie es so häufig vorkam, alle betrunken waren, kamen zwei Männer in den Hof und erstachen den Stiefvater. Carla, die Ältere der Schwestern, konnte sich noch genau an die Worte erinnern, die die Männer ihrer Mutter zuwarfen. «Dein Mann ist tot», sagten sie und gingen davon. Kurz darauf starb die Mutter an Tuberkulose. Die Grossmutter, die in demselben Haus in einem Zimmer zur Miete wohnte, nahm die Kinder zu sich. Es besserte sich jedoch nichts für die Kinder. Die Grossmutter trank, lebte ebenfalls von Diebstählen und liess die Kinder häufig eingesperrt im Zimmer zurück. Zur Schule ging keines von ihnen. «Eines Tages stieg der Sohn der Hausbesitzerin durch das Fenster ein und missbrauchte mich», erzählte Carla, die zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal zwölf war. «Beim nächsten Mal wollte mich Panchito verteidigen und biss ihn in den Arm. Der schlug mit aller Kraft zu und warf Panchito zu Boden, wo er eine ganze Zeit lang wie tot liegenblieb.» Die Kinder erzählten ihrer Grossmutter nichts davon, denn der Sohn der Hausbesitzerin hatte gedroht, sie zu töten, wenn sie ihn verrieten. Ganz offensichtlich war es jedoch so, dass auch die Grossmutter andere Männer zum Sexualverkehr mit ihrer Enkelin ermunterte und dafür Geld nahm. Das ging so lange gut, bis die Nachbarn Anzeige erstatteten.

«Mein Gott», dachte ich erschüttert, während ich Panchitos Bild in meinem Büro noch einmal betrachtete. «In diesem Bild steht die ganze Geschichte dieser Geschwister geschrieben. Die grossen, die mit Tränen gefüllten Augen, die zusehen müssen, was der Schwester angetan wird; Arme, die nichts dagegen unternehmen können, und darum nicht vorhanden sind.» Ich hatte mir so einiges Wissen in den Büchern über Maltherapie angelesen. Es schien mir alles glasklar, sogar das Wasser, in dem das Kind steht, denn Panchito war, wen wunderts, zum chronischen Bettnässer geworden. Oft schlägt er auch ohne ersichtlichen Grund zu, begleitet von unzusammenhängenden Obszönitäten. Steht die leuchtende Sonne auf dem Bild etwa für die Hoffnung, dass nun alles besser werden würde? Das einzige, was ich nicht deuten konnte, waren die grünen Kugeln unter dem Hut und in den Händen …

«Ich möchte, dass du mit Panchito über diese Zeichnung sprichst. Wer weiss, vielleicht finden wir noch etwas heraus», sagte ich zu meiner Frau Guisela, da ich selbst leider gerade zu einem Termin weg musste.

Als ich zurückkam, fand ich auf meinem Schreibtisch einen Zettel mit Guiselas Aufzeichnungen zu ihrem Gespräch mit Panchito. Ich traute meinen Augen nicht, als ich las: «Das ist Lucho. Er hat einen Hut, in dem er die Taubeneier versteckt. Er geht durchs Wasser und deshalb sind seine Hosen nass.»

Lucho war ein grösserer Junge, der ebenfalls in »Tres Soles» wohnte. Es stellte sich heraus, dass dieser Lucho heimlich aufs Dach gestiegen war, um Taubeneier aus einem Nest zu holen. Die grünen Kugeln unter seinem Hut und in seinen Händen waren Taubeneier! Und wieso das Wasser? Um zu der Ecke zu gelangen, wo das Taubennest war, musste Lucho durch unseren Wassertank auf dem Dach gehen. Panchito hatte ihn gesehen und Lucho hatte Panchito schwören lassen, dass er zu niemandem etwas sagen würde …

Nach diesem Reinfall habe ich nie wieder versucht, ein Bild zu interpretieren. Dabei war ich mir doch, als ich mich damit befasste, bewusst gewesen, dass Maltherapie kein einfaches Thema ist und man dafür eine lange Ausbildung, viel Erfahrung und Einfühlungsvermögen benötigt. Es besteht die Gefahr, dass man eigene, ungelöste Probleme und Komplexe auf die Bilder anderer überträgt. Carl Gustav Jung, der Pionier und Begründer der modernen Maltherapie, selbst hat in keiner seiner Schriften eine Entschlüsselungsmethode zur Interpretation von Bildern aufgestellt. «Ich meine, dass es wichtig ist, keine endgültigen Aussagen und Interpretationen über Symbole, Anordnungen und Bildquadranten zu machen», schreibt auch Gregg M. Furth, ein Maltherapeut aus der heutigen Zeit, in seinem Buch «Heilen durch Malen». «Der Analytiker sollte sich nicht ausschliesslich auf Symbolinterpretationen verlassen, die aus Symbollexika stammen, auch soll er nicht dem entgegengesetzten Extrem verfallen und diesen Zugang vollkommen verwerfen.»

Ich musste mich endgültig damit abfinden, dass wir ohne ausgebildete Therapeuten keinen Zugang zu systematischen Behandlungsmethoden haben würden. Ähnlich wie beim Theater und bei der Musik mussten wir uns auf die therapeutischen Heilkräfte verlassen und darauf, dass sie von alleine wirken, ohne viel dazu beitragen zu können, so wie ich das bereits in der letzten Bolivienspalte geschrieben habe.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, der kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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