Die Schrecken der Vergangenheit und der Wiederholungszwang

  23.02.2018 Saanenland, Gesellschaft, Kolumne

Wichtige Gedenkjahre kurbeln die Erinnerungsindustrie an: Es erscheinen Bücher, Artikel, Filme. Dieses Jahr geben, unter anderem, der Beginn des Dreissigjährigen Krieges vor 400 Jahren, das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren und die Schlacht von Stalingrad vor 75 Jahren Anlass dazu. Es kann nicht schaden, sich mit all dem zu beschäftigen, um die berühmten «Lehren aus der Geschichte» zu ziehen. Doch das bleibt wohl ein ewiger Appell – und eine ewige Illusion. Allen Friedensschlüssen zum Trotz: Irgendwann verblassten die Schrecken der Vergangenheit. Und es wiederholte sich, was sich nicht mehr wiederholen sollte.

1618 war es wieder einmal so weit, der Dreissigjährige Krieg begann. 1648 wurde er mit einem wegweisenden Friedensschluss – dem Westfälischen Frieden – beendet. Dieser war ein historischer Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung und auch der Beginn der Entwicklung des modernen Völkerrechts. Doch ein Jahrhundert später tobten erneut zwei grosse Kriege, erstmals mit weltumspannenden Auswirkungen: Der Österreichische Erbfolgekrieg (1740– 1748) und der Siebenjährige Krieg (1756–1763). Nach den napoleonischen Kriegen schmiedeten die Grossmächte 1815 auf dem Wiener Kongress ihre Heilige Allianz, um künftige Konflikte ohne Waffen beizulegen. Auch wenn es ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder Kriege gab, dauerte es bis zum nächsten ganz grossen Knall immerhin ein Jahrhundert, bis 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Manche Historiker sprechen vom zweiten Dreissigjährigen Krieg, der erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 zu Ende ging. Es folgten der Kalte Krieg, das atomare Gleichgewicht des Schreckens – aber auch die Gründung der Vereinten Nationen.

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks herrschte eine Zeitlang so etwas wie Hoffnung auf dauerhaften Frieden. Es wurden Entwicklungen möglich, die kurz zuvor kaum jemand für realistisch gehalten hätte – von den friedlichen Umwälzungen in den einst kommunistischen Staaten bis hin zur deutschen Wiedervereinigung. Den Weg dazu bereitet haben, unter anderen, US-Präsident George Bush senior, der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, Politiker also, «die unbedingt die Wiederholung der Katastrophen vermeiden wollten, die sie miterlebt hatten: Die Vergangenheit sollte überwunden werden», schrieb der bekannte Schweizer Historiker Thomas Maissen vor einiger Zeit. Und: «Die Motivlage der nachfolgenden Politikergeneration ist oft eine andere: Sie versprechen ihren Völkern, dass sie zu verlorener Grösse zurückkehren können.» Was eine solche Politik in letzter Konsequenz bedeutet, ist klar: «So wird der Krieg wieder eine Versuchung.»

Es ist nicht so, dass heute irgendjemand bewusst und zielstrebig einen grossen, globalen militärischen Konflikt anstrebt. Nur ist auch kaum jemand da, der gewillt oder fähig ist, die verschiedenen gefährlichen, regionalen Kriege zu beenden und die wachsenden Spannungen abzubauen. Die alljährliche Münchner Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende zeigte eindrücklich, wo wir stehen: Nicht Sicherheit und Frieden standen im Vordergrund der Politikerreden, sondern Drohungen und Krieg. Explosiv wird die Lage dann, wenn ein Ereignis reizbare, unfähige, verantwortungslose und nervöse Politiker zu unbedachten Handlungen treibt, etwa im angespannten Verhältnis zwischen Nordkorea und den USA oder zwischen Israel und Iran. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Ereignis auf einem «Nebenschauplatz» eine katastrophale, nicht mehr kontrollierbare Kettenreaktion auslöste. Der Politikwissenschaftler Dieter Ruloff, früherer Professor für internationale Beziehungen an der Universität Zürich, schreibt in seinem Buch «Wie Kriege beginnen»: «Wer den Krieg verstehen will, muss sich vor allem mit der Schwelle zwischen Krieg und Frieden befassen.» Sollte das Gedenken an frühere Kriegsausbrüche dazu dienen, sich bewusst zu werden, was genau kurz vor Ausbruch eines Krieges falsch gelaufen ist, dann wäre schon viel erreicht. Fachliteratur dazu gibt es genug. Manchmal wünscht man sich, Spitzenpolitiker nähmen sich Zeit, diese zu lesen.

JÜRG MÜLLER
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