Installationen

  27.02.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER
Das Haus von «Tres Soles» in Quillacollo, in das wir 1999 eingezogen sind und das die Kinder und Jugendlichen selbst entworfen haben, ist in U-Form gebaut; das heisst, es hat einen Mittelteil und zwei Seitenflügel. Der dadurch entstandene Hof ist überdacht und dient als «Mehrzweckraum», zum Beispiel für Spiele, Feiern oder Theaterproben und Aufführungen. Von diesem Innenhof aus führen Türen in die Küche, in das Esszimmer, in die Schreinerei und in die Zimmer der älteren Jungen. Im ersten Stock, wo nicht nur die jüngeren Kinder, sondern auch die älteren Mädchen untergebracht sind, gibt es im Mittelteil zur Hofseite hin einen langen Balkon, der gleichzeitig als Gang dient, um die beiden Seitenflügel mit dem Mittelteil zu verbinden, wodurch die Zimmer von einem Seitenflügel zum anderen Seitenflügel erreichbar sind. Als Geländer für den besagten Gang oder Balkon war ein Holzgeländer vorgesehen. Da bei unserem Einzug diese Arbeiten jedoch noch nicht abgeschlossen waren, stapelten wir entlang der Aussenseite des Gangs Stühle auf, um Unfälle zu vermeiden. Von weitem gesehen, ergaben diese Stühle ein seltsam abstraktes Gittermuster, das vom Boden des Gangs bis zum unteren Rand des Dachstuhls reichte. Ich zeichnete das Muster ab und bat den Schreiner, ein entsprechendes Gitter aus Holz anstatt eines herkömmlichen Geländers zu zimmern. Die Idee war, die Möglichkeit zu haben, auch Kulissen unserer Theateraufführungen dort aufzuhängen, was auch sofort umgesetzt wurde. Eine Freiwillige, die besonders kreativ war, stellte eine lebensgrosse Puppe aus Gips her, die aus Körperteilen verschiedener Kinder geformt war. Sie hiess Pingo und wurde mit Draht an das Holzgitter befestigt. Längere Zeit wachte Pingo, schneeweiss und unbemalt, über unseren Hof und das Haus, bis wir das Theaterstück «Der Fluch oder das Ende des Inkareiches», von dem ich schon berichtet habe, inszenierten. Zu den Requisiten gehörten prächtige Vogelmasken und Kostüme, die die Spanier und Inka trugen und nach historischen Vorlagen genäht worden waren. «Es wäre wirklich schade, diese Kostüme einzumotten», meinte Braulio, einer unserer erfahrensten Schauspieler, nach der letzten Aufführung.

«Warum verkleiden wir Pingo nicht als den Inkakönig Atawallpa?», fragte jemand. Atawallpa war der letzte König der Inka, der von den spanischen Eroberern ermordet worden war. Ich war sofort Feuer und Flamme und Pingo wurde als Atawallpa verkleidet. Wir bauten noch eine weitere Puppe, einen Spanier mit seiner Feuerbüchse. Überlebensgrosse Vögel, darunter einer auf einem Trapez am Dach befestigt, vervollständigten das Bild. Unsere erste «Installation» war entstanden. Installationen sind zweifelsohne sehr verwandt mit der Mal- und Bildhauerkunst. Eine Installation ist jedoch in der bildenden Kunst laut Lexikon eine «dreidimensionale Kunstform im Innen- und Aussenraum und ermöglicht die Verwendung jeglichen Materials, wie auch von Zeit, Licht, Klang und Bewegung».

Es wurde bei uns zur Tradition, dass nach jedem aufgeführten Theaterstück die Puppen mit den nutzlos gewordenen Kostümen eingekleidet und mit ihnen Szenen nachgestellt wurden, um sie nachwirken zu lassen. Nach dem Stück «Mein Cousin ist mein Vater», um ein weiteres Beispiel zu nennen, wurden die Mutter und der Vater als Installation dargestellt. Der Vater, der in dem Stück seine Kinder misshandelt und auf unerklärliche Weise in ein Kind zurückverwandelt wird, muss nun selbst alle Misshandlungen erleben. Zu diesen Misshandlungen zählt auch das Machoverhalten der Männer, das Frauen und Mädchen in den Haushalt verdammt und oft keine berufliche Verwirklichung zulässt. Dieses Verhalten ist in Bolivien leider noch heute weit verbreitet, oft verbunden mit körperlicher Gewalt, besonders unter Alkoholeinfluss. Laut Statistik werden acht von zehn Frauen von ihren Männern in Bolivien misshandelt, die höchste Rate in Südamerika, weshalb wir in «Tres Soles» gewissermassen Verkehrsschilder aufgestellt haben, auf denen Bilder von Prügelszenen durchgestrichen sind und unter denen steht: «Gewaltfreie Zone».

An unserem Holzgitter mit den Installationen ist also die Figur des Vaters, im Stück Ramiro genannt, befestigt, der ein kleines Kind auf dem Schoss hält und ihm die Milchflasche gibt. Neben ihm steht seine Frau Beatriz mit einer Sichel in der Hand. Beide sind als Indios gekleidet. Neben den Köpfen hängen Sperrholzplatten mit Sprechblasen wie in Comics, auf denen auf Quechua zu lesen ist, was die Eheleute zueinander sagen: «Wawa q’anwan kaita munan»
– «Das Kind will mit dir sein», wendet sich Beatriz an ihren Ehemann Ramiro, der antwortet: «Waleq, rillay llank’aq a» – «Ist in Ordnung, geh nur arbeiten.»

In breiten Kreisen der bolivianischen Gesellschaft wird ein Mann, der sich um Haushalt und Kinder kümmert, als eigenartig und sogar als schwul – «maricón» – verspottet. In «Tres Soles» werden alle Arbeiten konsequent von Jungen und Mädchen ausgeführt, sei es in der Küche, bei den Reinigungsarbeiten im und ausserhalb des Hauses oder in den Werkstätten.

Neben der «Hauptinstallation», die von Zeit zu Zeit verändert wird, gibt es noch ein paar kleinere Installationen, für die vor allem unser Psychologe Lucio zuständig ist. Im Esszimmer hängen zum Beispiel an der Wand mehrere Masken, unter denen steht: «Wer in der Wohngemeinschaft nicht mithilft, hat auch kein Recht zu kritisieren.»

Des Weiteren hat Lucio auf einem kleinen Regal verschiedene Flaschen mit alkoholischen Getränken aufgestellt und auf einem anderen liegen leere Zigarettenschachteln. Darunter findet man eine Art Wandzeitung, auf der Zeitungsartikel über die Schädlichkeit dieser Produkte zu lesen sind; auf einem dritten Regal erblickt man Spielzeugwaffen mit dem Hinweis, dass solche Spielzeuge nicht geeignet seien, eine friedlichere Welt zu schaffen.

Solche Installationen eignen sich auch besonders gut, um Aktionen rund um das Thema sexuelle Aufklärung und Vorbeugung zu vertiefen.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, der kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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