Lebhafter Senior bestreitet den Engadiner zum 40. Mal

  13.03.2018 Sport

PORTRÄT Seit einem halben Jahrhundert gibt es den Engadin Skimarathon. Am vergangenen Wochenende startete Willy Aegerter aus Schönried zum 40. Mal. Mit 2:21.58,2 Laufzeit platzierte er sich in seiner Kategorie auf dem 5. Platz. Er erzählt aus einem bewegten Leben und dass er einmal den Rekord aufstellen möchte, die meisten Engadiner gelaufen zu sein.

BLANCA BURRI
«Ich ging in Gruben zur Schule, besuchte also eine höhere Schule, denn sie liegt auf 1100 m ü. M.» Willy Aegerter lacht. Der 70-Jährige aus Schönried hat trotz der zum Teil schweren Jahre seinen Humor behalten. Er gibt ihn auch seinen vielen Gästen weiter, die er beim Bergsteigen, Langlaufen, Skifahren und Snowboarden begleitet. Seine Mutter war 20 Jahre alt, als sie ihn in Worb unehelich gebar. Damals war die Verdingkindpolitik in vollem Gange. Vorausschauend nahmen ihn die Grosseltern zu sich nach Schönried, als er drei Wochen alt war. Sie wussten, dass es schwierig sein würde, wenn die Mutter den Jungen selbst erzog. «Dieser Hintergrund war mir lange nicht bewusst», sagt der Senior traurig. «Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter, aber man sagte mir immer, dass sie nicht zu mir schauen kann.» Dass sie nicht zu ihm schauen durfte, weil Willy sonst weggenommen und irgendwo platziert worden wäre, ging ihm erst in den 90er-Jahren auf, als das Tabuthema Verdingkind in den ersten Ansätzen aufgearbeitet wurde.

Nadelöhr Schulstube
«Ich hatte immer zu essen und etwas anzuziehen. Gerne hätte mein Grossvater mir ein ‹Örgeli› gekauft, aber das lag finanziell bei Weitem nicht drin.» Als Legastheniker hatte es Aegerter an der «höheren» Schule in der Gruben nicht einfach. «Im ersten Jahr hatten wir eine sehr gute Lehrerin, meine Noten waren gut und ich fühlte mich wohl.» Doch danach kam er zu einer Lehrerin, die kein Verständnis für sein Handicap hatte und es nicht unterliess, ihn zu schikanieren.

Als er rund 14 Jahre alt war, konnte er zu einer befreundeten Familie nach Wimmis ziehen. Die Grosseltern hofften, dass ihm der Schulwechsel gut tun würde und dachten, dass er auf dem landwirtschaftlichen Betrieb etwas lernen könne. Dort gefiel es ihm nur bedingt. Tagwacht war um fünf Uhr früh, dann folgten die Stallarbeit, Frühstück und ein langer Schultag. Bis spät in die Nacht sollte er bei der Stierzucht helfen. «Das interessierte mich aber überhaupt nicht.» Durch die kurzen Nächte sei er so ausgelaugt gewesen, dass er sich in der Schule nicht habe konzentrieren können.

Bestnoten in der Lehre
1964 hat Willy Aegerter seine Lehre als Schreiner bei der Firma Mösching in Saanen begonnen, was ihm mit seinem schulischen Hintergrund grossen Kummer bereitete. Dieser war unbegründet, denn sein Gewerbeschullehrer Hans Staub glaubte an ihn und unterstützte ihn stark. «Ich war lange der Einzige, der an der Abschlussprüfung in Berufskunde die Bestnote geschrieben hat», sagt er stolz. Ein paar Jahre arbeitete er in seinem angestammten Beruf. Danach baute der Vater von zwei inzwischen erwachsenen Kindern das Zuhause der Grosseltern um, absolvierte die Bergführerausbildung und machte sich danach als Bergführer selbständig.

Im tiefen Schnee stapfen
Schon in seiner Jugend war Aegerter ein grosser Bewegungsmensch und so erstaunte es nicht, dass er gerne an Rennen teilnahm. In seiner Lehrzeit war es Mode, an alpinen Skirennen zu starten. Obwohl er sehr sportlich war, wollte es ihm nicht so recht gelingen, Podestplätze erlangte er keine. Sein Arbeitskollege Alfred Hauswirth hatte entgegen der alpinen Mode mit dem Langlaufsport begonnen. Er sagte damals zu Aegerter: «Alpines Skifahren ist nichts für dich, aber Langlaufen, das könnte etwas sein.» Gesagt, getan. Als 17-Jähriger stand Willy Aegerter erstmals auf den Langlaufski und daran erinnert er sich klar: «Wir liefen hoch bis zum Saanewald oberhalb von Saanenmöser. Dort schnallten Ueli, Alfred und ich die Ski an. Ueli und ich liefen Alfred Hauswirth hinterher. Er zog die Laufund wir die Stockspur für eine Trainings-Rundloipe in den tiefen Schnee.» Nach den ersten 15 Minuten Langlauftraining seines Lebens verlor Willy Aegerter seinen Halt und fiel um. Bei diesem Sturz brach sein Langlaufski. Da er nur angerissen und nicht durchgebrochen war, leimte der Schreiner den Ski kurzerhand.

Oberländer Meister
Mit seiner feingliedrigen, muskulösen Statur war Aegerter wie geschaffen für den Langlaufsport. Er trainierte viel. Im Sommer standen Läufe und im Winter Langlaufrennen auf der Agenda. Schon bald wurde er Oberländer Meister, mit dem geleimten Ski, wohlverstanden. Er nahm an Juniorenmeisterschaften sowie Schweizermeisterschaften teil. «Während einem Training in Magglingen hatte ich das Pech, dass wir Fussball spielen mussten.» Bei diesem Spiel verletzte er sich am Fuss schwer, was das abrupte Ende des Spitzensportes bedeutete. Diese Verletzung verheilte viele Jahre nicht richtig aus. «Auch weil ich mich nicht an die vorgeschriebene Schonzeit hielt», sagt er selbstkritisch. Trotz der Verletzung blieb er ein überdurchschnittlich guter Sportler, nahm weiterhin an Rennen teil und blieb ständig in Bewegung.

Erster Engadiner verpasst
«Zwar habe ich von der ersten Austragung des Engadin Skimarathons erfahren, aber damals war es eine halbe Weltreise ins Engadin. Heute bedauere ich, war ich nicht schon dabei.» Hätte er sich von der Distanz nicht abhalten lassen, hätte Aegerter dieses Wochenende womöglich den 50. Lauf bestritten.

Erst zehn Jahre später absolvierte er schliesslich den ersten Engadiner. Sein Ziel ist es nun, irgendeinmal den Rekord der gelaufenen Engadiner, der heute bei 50 liegt, zu brechen. Ob er es erreicht, ist von seiner Gesundheit abhängig. «Ich komme meinem Ziel aber jedes Jahr etwas näher», schmunzelt er.

Als sich Aegerter in den 1960er-Jahre als Bergführer selbständig machte, arbeitete er in der Nebenaison bei Peter Lanz (Haushaltapparate). Berufsbegleitend machte er die Ausbildungen zum Langlauf-, Ski- und Snowboardlehrer. 1977 lernte er während einer Skitour ein Ehepaar kennen, das im Engadin ein Hotel führte. Dort boten sie schon damals Langlaufwochen und Ähnliches an. Willy Aegerter wurde kurzerhand als Langlauflehrer eingestellt und arbeitete während den letzten 40 Jahren jährlich bis zu sechs Wochen im Engadin – erst als Lehrer, später als Kursleiter sowie als Blumenund Wanderexperte. Auch nach so vielen Jahren ist der Langlauflehrer noch immer hoch motiviert. Ob Anfänger oder Fortgeschrittene, er unterrichtet alle und hat Freude daran.


ANNO DAZUMAL

Die Langlaufskis waren um 1965 noch aus Holz. Die Wachserei wurde nach alter Schule vollzogen: Die Ski hat man mit Grundwalla eingewachst und danach mit einem Lappen abgerieben. Erst im Anschluss wurde der Haftwachs aufgetragen


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