Das Spiel in der Erziehung

  10.04.2018 Leserbeitrag

Neben der Selbstverwaltung und Erziehung durch Kunst pflegen wir in «Tres Soles» ein drittes, für uns ebenso wichtiges Grundprinzip: Erziehung durch Spiel. Spiel soll nämlich nicht nur der Entspannung oder der Vertiefung von Erlerntem dienen, sondern auch als Technik zur Übermittlung von Lehrstoff. Leider betrachten gerade in Bolivien noch immer viele Lehrer das Spiel als überflüssigen Zeitverlust. In den meisten Schulen herrscht noch immer das traditionelle System von Kopieren und Auswendiglernen. Die Lehrer verdienen schlecht, haben gleichzeitig mehrere Jobs und natürlich weder Zeit noch Lust, eine Schulstunde vernünftig zu planen. Dem Spiel wird höchstens eine Bedeutung in der Pause beigemessen, damit die nach dem langen Stillsitzen überschüssige Energie abreagiert werden kann. Schule dagegen ist eine ernste Angelegenheit und das Wissen muss eingebläut werden, wenn nötig mit Prügel und sogar mit Blut, wie es in einem spanischen Sprichwort heisst: «La letra entra con sangre.» Dies alles zum Wohle des Kindes, wohlverstanden. Aber diese Lehrer übersehen, dass das Verb «erziehen» – vom lateinischen «educere» – genau das Gegenteil bedeutet: nämlich von innen her in Bewegung setzen und herausströmen lassen, und nicht von aussen eintrichtern oder gar einhämmern.

In «Tres Soles» sind wir überzeugt, dass Lernen Spass machen soll. Und zwar nicht, weil wir unverbesserliche Kuschelpädagogen sind, sondern weil das Erziehen durch Spass und Spiel viele wissenschaftlich nachgewiesene Vorteile hat. Ausserdem ist es eine Beschäftigung, die bei den Kindern aus eigenem Antrieb entsteht und daher kaum motiviert werden muss. Das Leben der jüngerer Kinder besteht anfänglich aus Spiel, um es so auszudrücken. Kinder spielen instinktiv, durch eine innere Kraft getrieben, so wie eine junge Katze mit einem Wollknäuel spielt und sich so auf ihr zukünftiges Jägerleben vorbereitet. Das Leben wird unbewusst und spielerisch erprobt. Das Kind, das Krankenschwester, Schreiner, Feuerwehrmann, Arzt, Lehrer oder Soldat spielt, ist dabei, Fähigkeiten und Talente für ein zukünftiges Lebensprojekt auszuprobieren.

Genau wie die Kunst – etwa das Theater, das ich in einem anderen Artikel schon thematisiert habe – besitzt das Spiel viele erzieherische Inhalte, die man nur nutzen muss. Zum Beispiel lernt das Kind, mit anderen Menschen umzugehen. Es schliesst Freundschaften, entwickelt Zusammengehörigkeitsgefühl, nimmt Rücksicht auf die Schwächeren, erfüllt die Spielregeln und lernt tolerant zu sein. Ebenso wichtig ist in diesem Zusammenhang die Förderung des Selbstwertgefühls, was im Grunde das Hauptziel jeder Erziehung sein sollte. Wenn jemand ein gesundes Selbstvertrauen hat, kann er oder sie im Leben alles erreichen, was er oder sie will – das eingetrichterte und auswendig erlernte Wissen hingegen wird in der Regel schnell wieder vergessen. Das Vertrauen, zusammen mit der Neugier, ist daher der geistige Appetit, um geistig gross und stark zu werden, nicht anders, als wenn man zu den Kindern sagt, dass sie ihre Milch trinken oder ihre Suppe essen sollen, damit sie «gross und stark» werden. Kinder ohne einen gesunden starken Körper vermeiden jegliche physische Anstrengung, im Geistesleben ist es genau dasselbe: Ein Kind ohne Selbstwertgefühl vermeidet jede geistige Herausforderung. Es wendet sich lieber dem Fernsehen und den Computerspielen zu, anstatt zu lesen oder zu spielen – ein durchschnittliches Kind hat, wenn es in die erste Schulklasse kommt, schon rund 5000 Stunden vor dem Fernseher verbracht. Eine andere wichtige Bedeutung, die das Spiel hat, ist ohne Zweifel die Kreativität. Das Spiel entsteht gerade dann, wenn die wirkliche Welt die Bedürfnisse des Kindes nicht erfüllt. Es flüchtet sich dann in eine Fantasiewelt, etwa in eine Welt von Schatzinseln und Piraten. Hier lernt es, schöpferisch zu wirken und eigene Initiativen zu entwickeln. Im Normalfall ist sich das Kind aber bewusst, dass es sich um eine Fantasiewelt handelt, denn es formt Brötchen aus Lehm, backt sie auf einem imaginären Feuer und verkauft sie in seinem Laden – aber es isst sie nicht.

Es könnten noch viele andere Inhalte aufgezählt und dementsprechend vertieft werden, aber es gibt ausreichend Literatur, die das Thema ausführlich behandelt. So haben etwa Jean-Jacques Rousseau, August Wilhelm Friedrich Fröbel, Hans Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich Schiller schon vor zweihundert Jahren auf die Bedeutung des frühen Entwicklungsstadiums, das Spielalter des Kindes, hingewiesen, was denn auch zur Gründung der Kindergärten geführt hat. Später sprach Sigmund Freud davon, das Spiel sei eine Art von Vergangheitsbewältigung und ein Ventil, die es dem Kind erlaube, sich spielerisch an Personen, die ihm Schaden zugefügt hätten, zu rächen. Der berühmte Schweizer Pädagoge Jean Piaget schrieb, das Spiel stelle den Beginn allen menschlichen Tuns dar und erschliesse dem Kind erst das Verständnis für die Welt, die es umgibt.

Wenn Spiel allerdings erzieherisch sein soll – und da sind sich alle Erzieher und Pädagogen einig – dürfen die Kinder dabei nicht allein gelassen werden. Es gibt immer noch Eltern, die ihre Kinder zum Spielen «abschieben», um ihre Ruhe zu haben. Sie vergessen, dass sich ein Kind nicht «automatisch« in die richtige Richtung entwickelt, da der Mensch leider zum Egoismus und zum Recht des Stärkeren neigt. Das Kind sollte «wieder» lernen, freundlich zu sein, «Bitte», «Danke» und «Entschuldigung» zu sagen, andere mit ihrem Namen anzureden und zu warten, bis es an die Reihe kommt. Ich sage «wieder», da heutzutage alles selbstverständlich scheint und viele Kinder und Jugendliche sich benehmen, als seien sie allein auf der Welt und hätten ein Recht auf alles.

Die Erwachsenen müssen also dafür sorgen, dass es im Spiel zu keinem Missbrauch und zu keinen Unfällen kommt. Sie sollen ruhig auch selbst mitspielen. In dieser Form kann das Spiel Spass und Befriedigung erzeugen und zum Frieden beitragen mit sich und der Welt, wie Fröbel sagt: «Spiel ist das reinste geistigste Erzeugnis des Menschen … und ist zugleich das Vorbild und Nachbild des gesamten Menschenlebens, des Innern geheimen Naturlebens im Menschen und in allen Dingen; es gebiert darum Freude, Freiheit, Zufriedenheit.» Spielen kann deshalb nicht unter der Würde eines Erwachsenen sein, wie viele konservative Lehrer immer noch glauben. Es gibt andererseits auch Erzieher, die der Meinung sind, dass man das Spiel nicht missbrauchen sollte, um Lernstoff zu übermitteln, dass die Kinder zweckfrei spielen sollten. Ich glaube, man kann das Spiel als wertvolle Lernmethode verwenden, ohne das freie Spielen auszuschliessen und zu verdrängen. Auf alle Fälle wage ich die Behauptung, dass es auf der Welt weniger Kriege gäbe, wenn die Erwachsenen, vor allem die Herrschenden und Einflussreichen, wieder das Kind und die Fähigkeit zum Spielen in sich selbst entdeckten. Schiller schreibt sogar: «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, der kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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