Das Elend der Volksparteien und die Folgen

  28.07.2016 Kolumnen

BLICK IN DIE WELT

Der Brexit-Knall vor etwas mehr als einem Monat hat – ausser den europapolitischen Turbulenzen – einmal mehr etwas nicht minder Besorgniserregendes gezeigt: den lamentablen Zustand der traditionellen Volksparteien. Die regierenden britischen Konservativen waren in der EU-Frage heillos zerstritten, bei der sozialdemokratischen Labour-Partei wusste man nicht, wo genau sie eigentlich steht.
Aber das ist nun wirklich kein exklusiv britisches Phänomen. Fast in allen europäischen Ländern verlieren die einst dominierenden Volksparteien an Boden, unabhängig davon, ob sie konservativ, liberal oder sozialdemokratisch sind. Sie stellen zwar in vielen Ländern noch die Regierung, entweder alleine oder in Koalitionen, doch ihre Machtbasis bröckelt bei jeder Wahl. Das ist dramatisch und wird weitreichende Folgen haben. Denn es sind diese Parteien, die das Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, die die europäische Einigung vorangetrieben, und die die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die reichsten und freiesten Gesellschaften der Geschichte geschaffen haben.
Es gibt Gründe für den Niedergang der historischen Parteien, die sie sich selbst zuzuschreiben haben. Wer lange an der Macht ist, wird selbstgefällig, träge und vielleicht auch unsensibel für die Anliegen weiter Teile der Bevölkerung. Doch das sind nicht die entscheidenden Gründe für den Krebsgang. Die Hauptursachen für den Vertrauensverlust liegen weitgehend ausserhalb des Einflussbereiches dieser Parteien. Denn ihnen wird sozusagen die allgemeine Geschäftsgrundlage entzogen. Bei allen Unterschieden und Werthaltungen war den einst starken demokratischen Volksparteien eines gemeinsam: Im Kern ging es immer um Politikgestaltung vor dem Hintergrund einer einigermassen stabil wachsenden Wirtschaft.
Doch die alten Sicherheiten verschwinden: Finanz- und Schuldenkrise, Kasino kapitalismus, Globalisierung, verstärkter internationaler Konkurrenzdruck, schwindende Ressourcen, aber auch die digitale Revolution und wachsende Migrationsströme führen zu immer stärkerem und immer rascherem Wandel. Zudem haben in vielen Bereichen nur noch Spezialisten und Experten den Überblick und auch das Sagen. Dadurch schwindet die Gestaltungskraft der Politik ganz generell. Der Einfachheit halber schiebt man den traditionellen Parteien die Schuld an der neuen Unübersichtlichkeit in die Schuhe.
Die Zumutungen moderner und komplexer Gesellschaften sind das Einfallstor für Populisten. Sie haben zwar keine Lösungen, aber einfach verständliche Schlagworte. Grenzen dichtmachen, Ausländer raus, es denen in Brüssel zeigen – kurz: nationalistische Rhetorik. Die Methode der Rechtspopulisten ist ebenso simpel wie gefährlich: Alle anderen Parteien werden als elitär, korrupt und abgehoben dargestellt. Demokratische Errungenschaften, wie die Aufteilung der Macht auf verschiedene, sich gegenseitig kontrollierende Institutionen, werden angegriffen und systematisch schlechtgemacht. Das wohlaustarierte demokratische Gefüge wird mit dem Schlachtruf «Alle Macht dem Volk» in Frage gestellt. Institutioneller und zivilgesellschaftlicher Pluralismus sind den Populisten ebenso ein Gräuel wie supra nationale Institutionen. Durch die Verachtung und Demontage dieser Errungenschaften verlieren Europas Demokratien ihre Stabilität. Und wer garantiert dann, dass ein Europa der «Vaterländer» ohne moderierende EU, dafür mit einer protektionistischen und nationalistischen Interessenpolitik, wie sie der Französin Marine Le Pen, dem Niederländer Geert Wilders und anderen vorschwebt, ein Europa des Friedens sein wird? Der indische Autor Pankaj Mishra, einer der wichtigsten Intellektuellen der nicht-westlichen Welt, sagte jüngst in einem Interview mit dem «Bund»: «Die Vorstellung eines Europas, das kollabiert und in eine Reihe wütender kleiner Nationen zerfällt, ist sehr beängstigend.» Historisch gesehen haben Europas Nationalstaaten bisher keine 70 Jahre am Stück unblutig überlebt – ausser den letzten 70 Jahren, dank dem europäischen Einigungswerk. JÜRG MÜLLER [email protected]


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