Statuten gelten für alle Vereinsmitglieder

  25.08.2017 Kolumnen, Politik

Wenn jemand in einen Verein eintritt, muss er einige Regeln beachten. Er darf nicht gegen die Vereinsstatuten verstossen, nicht gegen die Vereinsinteressen handeln und er muss ganz allgemein gewisse Grundsätze und Werte der Organisation hochhalten. Das gilt nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für Staaten. Zum Beispiel für Polen. Polen ist Mitglied der Europäischen Union, und es verstösst in verschiedenen Bereichen gegen EU-Standards. In jüngster Zeit bietet die Justizreform Anschauungsunterricht.

«Justizreform» tönt zwar abstrakt, doch es geht um Grundsätzliches: um die Gewaltenteilung als fundamentales Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Die gesetzgebende (Parlament), die vollziehende (Regierung) und die richterliche Gewalt (Justiz) sollen getrennt sein. Auch wenn der polnische Präsident Andrzej Duda Ende Juli gegen einen besonders heiklen Teil des Gesetzespakets sein Veto eingelegt hat, wird die Regierungspartei mit dem schönen Namen «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) weiterhin danach streben, das Justizsystem unter ihre Kontrolle zu bringen und damit die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu untergraben.

Das ist kein exklusiv polnisches Problem. Auch in anderen ostmitteleuropäischen EU-Staaten stehen grundlegende demokratische Standards unter Druck. Das hat historische Gründe. Alle diese Länder haben immer noch mit einer schweren Last der Geschichte zu kämpfen. Polen war während Jahrhunderten Spielball der Mächte im Osten, im Westen und im Süden. Immer wieder war es Schauplatz von Aufständen und Kriegen, von Teilungen, Brüchen der historischen Kontinuität und Zerstörungen der nationalen Identität. Dieses Erbe hat sich tief ins Bewusstsein eingegraben. Eine liberale und demokratische Haltung hat sich unter diesen Bedingungen nie richtig entwickeln können, ebenso wenig das Aushandeln von Kompromissen. Stattdessen denkt man häufig in Kategorien von schwarz und weiss, von Helden und Verrätern, von Siegern und Verlierern.

Diese kompromisslose Haltung zeigt sich nicht nur im Innern, sondern auch aussenpolitisch. So versteht es PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski immer wieder, in heiklen innenpolitischen Situationen anti-deutsche Gefühle zu mobilisieren. Nicht das erste Mal fordert er Geld von Deutschland für die monströsen Nazi-Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges. Ein nationalistisches, der Regierungspartei nahestehendes Kampfblatt sprach diesen Monat von sechs Billionen Dollar. Doch es geht Kaczynski nicht primär um Geld und Sühne, sondern um Ablenkung und um die Vergiftung des Klimas. Denn kein anderes Land hat sich derart rückhaltlos seiner schrecklichen Vergangenheit gestellt wie die Bundesrepublik Deutschland, und es war vor allem Deutschland, das sich im Rahmen der Versöhnungspolitik immer wieder und sehr früh für die Integration Polens in die EU stark gemacht hat.

Doch in dieser EU ist Polen innerlich noch immer nicht wirklich angekommen. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, Polen habe die Demokratie lediglich als Potemkinsches Dorf, als Fassade errichtet, um wirtschaftlich vom europäischen Binnenmarkt zu profitieren und an die lukrativen Brüsseler Fördertöpfe heranzukommen. Denn hinter der Fassade wird nämlich hemmungslos eine nationalistische Agenda verfolgt und an autoritären Strukturen gearbeitet. Brüssel wird mit harten Mitteln die Einhaltung der «Vereinsstatuten» durchsetzen müssen, wenn es nicht will, dass demokratische Minimalstandards in der EU nach Gutdünken der Mitgliedsstaaten – notabene nicht nur im Osten! – ausgehebelt werden.

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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