Der 31. Oktober 1517, der Tag, an dem sich Europa verändert hat

  29.09.2017 Gsteig, Saanenland, Kirche, Lauenen

Am 31. Oktober 1517 hämmerte Martin Luther 95 Thesen gegen den Ablasshandel an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg, vermutlich auch an andere Kirchentüren. Wohl nicht zufällig einen Tag vor dem viel besuchten Allerheiligentag. Im Innern des Augustinermönches hatte sich die Reformation schon lange vorbereitet. Immer mehr wurde es Luther klar, dass der Sinn der Busse nicht in möglichst schwerer Selbstkasteiung, sondern einzig und allein in der «Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott» besteht. Die Busse über den falsch eingeschlagenen Weg geht nicht über Beichte, Rituale und Übungen, schon gar nicht über den Kauf eines Ablassbriefes, sondern Gott will dem Menschen ein neues Herz schenken, eine neue Gesinnung und neue Gedanken. Luther erlebte diese seine Entdeckung damals als so befreiend, dass er seinen Vaternamen «Luder» von nun an konsequent als «Luther», zeitweilig auch als «Eleutherius», der Erlöste oder Befreite, schrieb. Es ist für uns heute nicht einfach, die Zeit vor 500 Jahren mit all den reformatorischen Vorgängen verstehen zu können. Wir müssten die damalige Zeit erahnen können. Wir müssten den Wind spüren, der damals durch die Fensterfugen pfiff, zusammen mit den hungrigen Menschen die wässrige Suppe löffeln, den Gestank auf den Gassen riechen, der in die Wohnungen drängte, die Angst spüren, wenn Gerüchte über die sich nahende Pest aufkam. Das Leben der damaligen Menschen, des Einzelnen wie der Gesellschaft, war in den engen und oft gnadenlosen Rahmen der Natur eingespannt. Vom Wetter hingen Ernten und Lebensmittelpreise ab, dadurch eine gute oder schlechte Ernährung, Gesundheitsrisiken und Abnahme oder Zunahme der Sterblichkeitsziffern. Der Tod war allgegenwärtig. Die Kindersterblichkeit hoch. Das Europa dieser Zeit sah die Welt mit andern Augen an.

1517 ist nicht nur der Beginn der konfessionellen Gegensätze zwischen Protestantismus und Katholizismus, welche Europa bis ins 20. Jahrhundert hinein prägten, es ist zugleich auch die Geburtsstunde der modernen Medien. Ohne Luthers Wissen leiteten Drucker und Verleger die 95 Thesen weiter, um so durch das sich schnell verbreitende Interesse ein gutes Geschäft zu machen. Dadurch entwickelte sich eine Dynamik, die nicht mehr aufzuhalten war. Noch vor Jahresende kam die erste deutsche Übersetzung seiner Thesen heraus. Bereits im Frühjahr 1518 waren die Thesen in ganz Europa so verbreitet und bekannt, dass sie den ursprünglich innerkirchlichen Kreis überschritten und die deutsche Fassung seiner Kritik direkt auf den Märkten und Wirtshäusern dem Volk vorgelesen und auch rege diskutiert wurde. Bücher und Flugschriften wurden jetzt zu neuen Trägern der öffentlichen Meinung. Die Menschen wurden von der Botschaft, dass Gott nicht ein Angst einflössender Weltenrichter sei, sondern ein Gott, der für sie da ist, der sie erlösen wird, zu dem sie Vertrauen haben sollen, ergriffen.

Doch auch wenn uns die Welt des 16. Jahrhunderts fremd geworden und uns zum Teil ganz verloren gegangen ist, die Erkenntnisse und die Botschaften von Martin Luther sind noch immer aktuell, wenn auch in einem veränderten Fragehorizont.

Zum Beispiel seine Entschiedenheit und die Gewissheit, mit der Luther von Gott redete, wirkt auf uns heute herausfordernd. Ihm scheint das Problem, die Frage, wie wir von Gott reden können, völlig fremd gewesen zu sein. «Von Gott muss mit Entschiedenheit geredet werden. Ein Christ hat Freude an entschiedenen Behauptungen, wenn nicht, verrät er das Evangelium.» Oder: «Der Heilige Geist ist kein Skeptiker und hat nicht Zweifelhaftes oder Meinungen in unsere Herzen geschrieben, sondern entschiedene Behauptungen, die gewisser und sicherer sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.»

Doch im Gegensatz zu heute ist für Luther die Rede von Gott nicht eine Definition Gottes an sich. Von Gott reden heisst für Luther über die Situation des Menschen sprechen. Von Gott kann nicht anders gesprochen werden als so, dass der Mensch in seiner täglichen Existenz betroffen ist. Der Mensch lebt ja nicht in einem Niemandsland, irgendwo zwischen Himmel und Erde, sondern in der völligen Abhängigkeit von dem, was ihm vorgegeben ist. So fragt der Mensch auch nicht als Zuschauer nach Gott, sondern aus seiner konkreten Existenz, aus seiner Not heraus. Darum knüpft Luther an alltägliche und natürliche Erfahrungen an, wenn er das Wort Gottes verständlich machen will. Denn so wie Pflanzen und Tiere nur in einer Umgebung leben können, die ihnen entsprechen, so ist auch der Mensch auf Voraussetzungen angewiesen, die ihm entsprechen.

Ob es Gott gibt oder nicht, diese Frage beantwortet unsere Umgebung, unsere Situation uns nicht, jedoch fragt sie uns nach der Qualität unseres Lebens und nach unseren Autoritäten. Sie fragt uns nach unseren Göttern. Es geht Luther um ein Geschehen, um einen Dialog zwischen Gott und Mensch.

Doch die uralte Frage der Menschen, was nach dem Tod mit ihm geschehen würde, die Sorge um sein eigenes Heil, die in der Zeit der Reformation allgegenwärtig war und auch immer stärker zur Leitfrage in Luthers Leben geworden ist, hat sich nur in der Fragestellung verändert.

Die wichtigste Frage von Luther «wie kriege ich einen gnädigen Gott?» ist noch immer allgegenwärtig, jedoch in einer veränderten Form. Wie ich einen gnädigen Gott kriege, diese Frage stellt heute kaum noch jemand. Die Frage des heutigen Menschen ist die Frage nach dem Sinn seines jetzigen Lebens.

Wir wissen, dass wir uns den Sinn des Lebens nicht selber zusprechen können. Der Sinn des Lebens wird uns zugesprochen durch die Menschen, die uns brauchen. Durch eine Gemeinschaft, die zu mir sagt, wir wollen, dass du bei uns bist, wir brauchen deinen Humor, deine Art zu lachen, wir brauchen deine Trauer, einfach deine Gegenwart. So eine Gemeinschaft ist eine geschenkte Gemeinschaft, es ist geschenktes Leben und geschenkter Lebenssinn.

Doch wieso fragen heute so viele Menschen nach dem Sinn ihres Lebens, obwohl sie doch in einer Familie leben und arbeiten können. Ich glaube, weil wir bei der Frage, für was wir leben, immer wieder in die gleiche Falle tappen. Die Frage, wofür ich lebe, wird immer wieder verwechselt mit der Frage nach dem Nutzen meines Handelns, nach dem Zweck meiner Existenz. Gefragt wird immer wieder: Was nütze ich dem andern, was leiste ich für ihn? Dass die anderen glücklich sind, einfach weil ich existiere, diese Vorstellung ist uns fremd. Die Schlussfolgerung ist dann: Je mehr ich leiste, desto nützlicher bin ich für die anderen. Je mehr ich konsumiere, desto höher ist mein wirtschaftlicher Nutzen. Gefragt ist meine Arbeitsleistung, meine Konsumleistung, letztendlich wird nach meinem Kontostand gefragt. Gefragt ist auch nicht meine Meinung als Mensch. Gefragt ist nur noch mein Wissen. Gefragt werde ich nur noch dort, wo ich Expertin bin. Die Folge ist klar. Die Folge ist unsere heutige Leistungsgesellschaft. Doch eine Leistungsgesellschaft ist keine Lebensgemeinschaft, sondern eine Zweckgemeinschaft. Wie brüchig eine solche Gemeinschaft ist, wie austauschbar jeder einzelne Mensch geworden ist, erfahren wir heute täglich. Kehren wir zu der Frage von Luther zurück. Luther fragte nach dem ewigen Leben. Der heutige Mensch fragt nach dem jetzigen Leben. Die Fragen sind verschieden. Das Problem, welches sich dahinter verbirgt, ist das gleiche. So wird auch die Antwort die gleiche sein. Die Antwort ist eigentlich eine Frage, die lautet: «Wovon, Mensch, willst du leben? Willst du in einer Gemeinschaft mit Gott und der Welt leben und dein zeitliches und ewiges Leben als Geschenk annehmen, oder willst du dir dein zeitliches und ewiges Leben selber erwerben? Selber erschaffen?» Die Menschen zur Zeit der Reformation konnten den Beweis ihrer Gerechtigkeit vor Gott nicht aufgeben, der heutige Mensch kann den Beweis seiner Leistungsfähigkeit vor der Gesellschaft nicht aufgeben. Weil wir sicher sind, wer nichts leistet, verliert die letzte Anerkennung. Mit der Anerkennung verlieren wir unser Beziehungsnetz. Mit dem Beziehungsnetz verlieren wir unsere letzte Heimat, und ohne Heimat, ohne Beziehungsnetz können wir nicht leben. Und so leben wir weiter in diesem Teufelskreis. So wie die Menschen zur Zeit der Reformation Gefangene ihrer Gerechtigkeit vor Gott waren, so sind wir heute Gefangene unseres Leistungsdenkens geworden. Es gäbe noch viele Fragen und Antworten von Martin Luther, die nach wie vor aktuell sind, nur eben in anderen, in modernen Fragen verborgen sind.

KORNELIA FRITZ


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