Was die Musik in meinem Leben bedeutet

  12.09.2017 Leserbeiträge, Musik

STEFAN GURTNER
Ich heisse Harold, bin 16 Jahre alt und seit 2009 mit meiner Schwester Fabiana in «Tres Soles»». Mein Vater ist oder war – ich weiss nicht, ob er noch lebt – Musiker, das heisst, er spielte in einer Band, die bei Hochzeiten und allen möglichen Feiern auftrat. Er war Musiker – sonst nichts. Nach jedem Auftritt, wenn er bezahlt wurde, versoff er es mit seinen Kollegen. Wir lebten zusammen mit ihm, unserer Mutter und seiner Geliebten samt ihren Kindern – unseren Halbgeschwistern! – in einem einzigen Zimmer und hatten oft nichts zu essen. Als ich sieben und meine Schwester drei war, starb meine Mutter an einer Fehlgeburt. Die Geliebte unseres Vaters war jetzt auch unsere Stiefmutter, aber sie mochte uns nicht. «Entscheide dich für deine Bälger oder für mich», hörte ich sie zu ihm sagen. Sie drohte sogar auszuziehen. Da überliess unser Vater meine kleine Schwester und mich der Hausbesitzerin. Er schuldete ihr mehrere Monatsmieten und wir sollten den Betrag mit Hausarbeit bei ihr abarbeiten! Das habe ich meinem Vater nie verziehen, dass er das getan hat. Natürlich ging es schief, denn wir waren zu klein um zu arbeiten. Als wir unserem Vater zurückgegeben wurden, verkaufte er uns – man kann es nicht anders sagen – für 200 Dollar an eine Frau, die keine Kinder hatte. Die Frau behandelte uns zwar gut, aber als sie kein Geld mehr hatte, um uns zu ernähren, übergab sie uns dem Jugendamt. In Cochabamba waren alle Heime nach Geschlechtern getrennt. Fabiana und ich haben gekämpft, damit wir nicht getrennt wurden. Immer wieder kamen wir in andere Heime, immer wieder wurden Ausnahmen gemacht und Fabiana durfte bei mir bleiben. Das hatte zur Folge, dass Fabiana die ganze Zeit mit Jungen zusammen war. «Warum bist du nur kein Junge?», habe ich einmal spasseshalber zu ihr gesagt. «Alles wäre einfacher gewesen!»

«Ich möchte ja ein Junge sein!», hat sie mir weinend geantwortet. «Und ich hätte Carlos heissen wollen, nur damit du es weisst!» Es ging so weit, dass sie sich nur wie ein Junge kleidete und lange Haare ablehnte. Haarschnallen und Schleifen, die ihr die Betreuerinnen besorgten, riss sie sich immer wieder vom Kopf. Beim letzten Theaterstück, das wir in «Tres Soles» aufgeführt haben, wollte sie unbedingt einen Jungen spielen und sie tat es besser, als es jeder Junge getan hätte. Das alles ist wohl ein Resultat davon, dass sie so früh ihre Mutter verloren und nur mit Jungen gespielt hat. Bevor wir zu «Tres Soles» kamen, wollte uns unser Vater im Heim, wo wir gerade waren, besuchen. «Er soll gehen, er soll uns für immer vergessen!», schrie ich. «Harold, sei vernünftig», versuchte mich die Sozialarbeiterin zu beruhigen. «Immerhin ist er dein Vater!» «Nein, nein, wir wollen ihn nie wiedersehen, er hat uns verkauft!» Ich war ausser mir, so sehr hasste ich meinen Vater. Je älter ich wurde, desto stärker spürte ich diesen unkontrollierbaren Zorn in mir. Ich konnte einfach nichts dagegen machen. Noch heute beginne ich mit meinen Mitbewohnern oder Betreuern in «Tres Soles» wegen der geringsten Kleinigkeit zu diskutieren. Irgendwie schaffe ich es auch nicht, regelmässig in den Werkstätten, zum Beispiel in der Karten- oder Nähwerkstatt zu arbeiten. Wenn ich Geld brauche, leihe ich es mir von jemandem und kann es dann nicht zurückzahlen, was natürlich zu Problemen führt. «Du bist verantwortlungslos und faul», bekomme ich dann zu hören. «Das Einzige, was du kannst, ist auf deiner Gitarre herumzuklimpern!»

Ja, es ist wirklich seltsam, Musikunterricht ist die einzige Aktivität, die mich interessiert, obwohl Musik mich unentwegt an meinen Vater erinnert. Ich kann stundenlang auf meiner Gitarre üben und vergesse dann alle meine anderen Verpflichtungen. Einmal wollte ich die Schule schwänzen und unter dem Stacheldraht hindurchkriechen, der das Schulgelände umgibt. Weiss der Teufel, warum eine Schule mit Stacheldraht und Mauern umzäumt werden muss wie ein Konzentrationslager! Ich habe mir das Gesicht dabei so zerkratzt, dass ich die Narben heute noch habe. Während des Heilungsprozesses wollte ich niemanden sehen, sass praktisch nur auf meinem Bett, spielte Gitarre und las alle Abenteuerromane, die wir in unserer Bibliothek haben. Neben dem Musikspielen lese ich sehr gern. In der Schule sagen die Lehrer, dass ich gut lese und schreibe, aber weil ich meine Hausaufgaben nicht oder nur flüchtig mache, habe ich schlechte Noten. Weil ich so gut schreibe, hat mich Stefan gebeten, meine Geschichte aufzuschreiben.

In letzter Zeit habe ich mir Mühe gegeben, mich zu bessern. Obwohl ich nicht besonders religiös bin, habe ich sogar in der örtlichen Kirche in der Musikgruppe zu spielen begonnen. Als ich wieder einmal über die Stränge geschlagen hatte, wollte man mir nicht erlauben, an einer Probe in der Kirche teilzunehmen. Wir hatten wenige Tage zuvor den französischen Spielfilm «Les choristes» (auf Deutsch «Die Kinder des Monsieur Mathieu», Regie Christophe Barratier) gesehen. Der Film handelt von einem Lehrer, der in einem Internat für schwer erziehbare Jungen gegen alle Widerstände einen Chor gründet und zeigt, wie wertvoll Gesang und Musik in der Erziehung sein können. Anschliessend machten wir mit Stefan eine Gesprächsrunde, so wie wir das immer tun, wenn wir mit ihm einen Film sehen. Ich erzählte ihm vom Problem, dass ich mit den Betreuern wegen meiner Musikprobe hatte und er sprach mit den Betreuern: «Man kann doch nicht jemanden bestrafen, indem man ihm etwas wegnimmt, das erzieherisch so wertvoll ist!» Nachher nahm mich Stefan zur Seite und fragte mich, warum ich so gerne Musik spiele. «Irgendwie steckt die Musik wohl in meinem Blut», erwiderte ich nach kurzem Zögern. «Mein Vater ...»
Stefan nickte und erzählte mir die Familiengeschichte von Teresa Laredo, einer Berufsmusikerin, die uns schon in «Tres Soles» besucht hatte, von ihrem Vater und ihren Verwandten, die alle grosse Musiker waren und Teresa entscheidend beeinflusst hatten. Wie gern hätte ich in diesem Moment meinem Vater neben mir gehabt und dass er zusammen mit mir gespielt und gesungen hätte. Aber mein Vater war zu egoistisch gewesen und letztendlich hatte er seine Geliebte vorgezogen, anstatt sich um uns zu kümmern. Mir wurde plötzlich klar, dass ich nicht dieselben Fehler machen sollte wie mein Vater, wenn ich Musiker werden wollte.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, der kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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