Leben in zwei Kulturen

  10.10.2017 Feutersoey, Kanton, Gsteig, Saanenland, Schweiz, Saanen, Region, Schule, Familie

FEUTERSOEY/ESTAVAYER Thomas Raaflaub war 40 Jahre Lehrer an der Schule Gsteig-Feutersoey. Dort hat er den Schüleraustausch zwischen seiner Schule und der Schule Blonay initiiert und während Jahren erfolgreich organisiert. Seit über zehn Jahren koordiniert er den Sprachaustausch für den ganzen Kanton Bern. Und in seiner zweiten Heimat Estavayer engagiert er sich als «Agent EstaSympa».

ANITA MOSER
Vor 42 Jahren hat Thomas Raaflaub an der Schule Gsteig-Feutersoey als Lehrer angefangen. Es war seine erste Stelle nach der Ausbildung. «Ich hatte von klein auf eine starke Bindung zu Saanen. Ich bin Saaner Bürger, bin in der St.-Niklaus-Kapelle in Gstaad getauft worden – übrigens zusammen mit Marcel Bach», erzählt Thomas Raaflaub in der Wohn- und Arbeitsküche seines Chalets am Ufer des Neuenburgersees. Diese Bindung hat einen Riss bekommen, als 2015 das Arbeitsverhältnis aufgelöst wurde. Heute konzentriert sich Thomas Raaflaub auf seine Aufgabe als Austauschkoordinator für den Kanton Bern. Der 62-Jährige fühlt sich seit jeher zwischen, respektive in den beiden Kulturen deutsch und welsch zu Hause.

«Französisch war für mich immer eine wichtige Sprache. Schon mit meinem ersten Buch auf Französisch – Asterix – hat sich mir eine neue kulturelle Welt erschlossen.» Zur Zweisprachigkeit gekommen sei er wie die Jungfrau zum Kind, erzählt er. «Ich habe mich in den 1980er-Jahren über die Tagesschau im SRF so aufgeregt, dass ich auf die welschen Sender gewechselt habe.» Heute schaut er praktisch nur noch welsches Fernsehen, liest die «Liberté», hört welsches Radio.

Austausch zwischen Deutsch und Welsch
Nach der Jahrtausendwende hat Thomas Raaflaub, damals Schulleiter an der Schule Gsteig-Feutersoey, den Schüleraustausch zwischen der Ecole de Blonay-St-Légier und «seiner» Schule initiiert. «Die Klasse aus Blonay verbrachte jeweils eine Woche an unserer Schule und umgekehrt unsere Klasse eine Woche in Blonay.» Gewohnt haben die Schülerinnen und Schüler bei Gastfamilien. «Die Organisation der Wochenprogramme war jeweils aufwendig, aber der Aufwand hat sich gelohnt», sagt Raaflaub rückblickend. «Höhepunkt war das Austauschprojekt ‹Ados toqués› (Jugendliche mit Kochmütze). Rund 50 Kinder haben während drei Tagen das Hotel Préalpina in Chexbres geführt.»

2 Langues – 1 Ziel
Seit über zehn Jahren ist Thomas Raaflaub Austausch-Koordinator im Kanton Bern. «Der Kanton Bern hat festgestellt, dass er gegenüber anderen zweisprachigen Kantonen Aufholbedarf hat», erklärt er. «2 Langues – 1 Ziel» heisst das Programm, das Thomas Raaflaub und sein welscher Kollege Alexandre Mouche in Schulen im ganzen Kanton vorstellen. Der Austausch findet zwischen den Kantonen Wallis und Bern statt. Das Programm sei ein voller Erfolg, sagt Raaflaub und seine Augen strahlen. «Es gibt Schulen, die zum siebten Mal in Folge mitmachen.» Der Austausch dauert jeweils neun Tage, also über zwei Wochenenden. Das sei sehr wichtig, so Raaflaub. «Die Schülerinnen und Schüler sollen das Alltagsleben kennenlernen, mehr nicht.» Und so sieht der Austausch aus: Zwei Schülerinnen oder Schüler besuchen sich je viereinhalb Tage, wohnen bei der jeweiligen Familie, besuchen die Schule am fremden Ort und kommen so mit der anderen Sprache in Kontakt. Sie lernen aber auch eine andere Kultur kennen, sehen, wie eine andere Familie lebt, was sie isst, wie ihr Alltag aussieht, wie man miteinander spricht, umgeht. «Die Lehrer bleiben vor Ort, die Schulleitung muss also keine Stellvertretung organisieren», so Raaflaub. Das erfolgreiche Projekt ist auch in Bundesbern angekommen, der Austausch wird nun auf Bundesebene gefördert, es gibt neu eine schweizerische Agentur. «Wir sind zuvorderst», freut sich Raaflaub. «Es gibt keine zwei Kantone, die so viele Kinder physisch austauschen wie die Kantone Bern und Wallis. ‹2 Langues – 1 Ziel› ist zusammen mit ‹Sprachbad Immersion› in der Hauptstadtregion der zahlenmässig grösste Binnenaustausch in der Schweiz.»

Auch bei «Deux im Schnee» war der Lehrer und Schulleiter aus Gsteig-Feutersoey Mitinitiant. Das Austauschprogramm wurde 2016 als Pilotprojekt im Saanenland gestartet, im vergangenen Winter erfolgreich wiederholt. Und dann gibt es auch noch das 12. partnersprachliche Schuljahr – ein 10. Schuljahr, das man in einer anderen Sprachregion absolviert. Im Saanenland findet der Austausch mit Château-d\\'Oex/ Rougemont statt.

«Agent EstaSympa»
Seit Sommer 2015 verbringt Thomas viel Zeit in seinem Chalet in Estavayer. Sein Vater hat das Haus, das direkt am See liegt, 1977 gekauft. 2012 haben es Thomas Raaflaub und seine Frau Erika übernommen und zusammen mit ihren beiden erwachsenen Söhnen umgebaut. «Wir haben schon immer viel Zeit hier verbracht, aber wir waren immer Touristen. Man hat die Nachbarn gekannt, aber niemanden aus der Stadt», erzählt Raaflaub. Nun, wo er mehr Zeit hier verbringt, sozusagen sein Büro hier hat, will er aber mehr sein als ein Tourist. Und deshalb hat er 2015 die Ausbildung gemacht zum «Agent EstaSympa». Das Programm, lanciert vom Integrationsbüro, gibt es in ein paar Gemeinden im Kanton Freiburg. «Es geht in diesem Integrationsprojekt nicht darum, dass du eine Aufgabe erfüllen kannst, sondern es wird dir eine Haltung vermittelt, eine Haltung, damit du auf den Nächsten zugehen und Projekte selber aufziehen und durchführen kannst», erklärt Raaflaub. Es gehe um Themen wie Selbstwertgefühl, Persönlichkeitsentwicklung, positiver Blick für das Kennenlernen des Sozialgefüges usw. «Was wir von Ausländern erwarten, können wir auch als ‹Furtharige› machen», ist Raaflaub überzeugt. «Von allen Ausbildungen und Weiterbildungen war diese eine von den besten», schwärmt er. «Muss man dem Kanton Freiburg dafür ein ganz grosses Lob zollen. Es ist erstaunlich, wie gut das funktioniert.» Er habe die Ausbildung als Berner, als Feutersoeyer gemacht und keiner habe gesagt, «du wohnst ja nicht in dieser Gemeinde». Man habe es geschätzt, dass er diese Ausbildung mache und dazu noch auf Französisch. Und als die Projekt-Koordinatorin in Mutterschaftsurlaub ging, übernahm er deren Stellvertretung. «Es läuft wie am Schnürchen. Estavayer hat mit sechs anderen Gemeinden fusioniert und diese Fusion ist ein grosses Thema.» Er habe lange überlegt, was er zu diesem Thema machen könne. Schliesslich hat er ein Lied komponiert – auch die Musik liegt ihm im Blut, schon als Lehrer in Feutersoey hatte er eine Schülerband gegründet. Das Lied hat eine Gruppe von «Agents Sympas» in allen 41 Primarklassen der neuen Gemeinde gesungen. «Es ist sehr gut angekommen und wurde sogar zum Schulschluss gesungen», so Raaflaub.

Literaturclub und «Boîte à lire»
Nach der Ausbildung hat er in einigen Projekten mitgearbeitet und eines selber initiiert. «Der Chef von ‹communes sympas› meinte: ‹Du, Thömu, ich möchte so gut Deutsch können wie du Französisch›». Und das habe er sich zur Aufgabe gemacht: «Ich habe in Estavayer einen deutschen Literaturclub gegründet.» Die Interessierten kommen einmal im Monat zusammen. Momentan lesen sie «Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer». «Alle haben grosse Freude», freut sich der Lehrer aus dem Saanenland. Und er selber habe in relativ kurzer Zeit jede Menge Leute kennengelernt.

Im Weiteren wurde das Projekt «Boîte à lire» initiiert. Das sind kleine Bibliotheken, wo Leute Bücher reinstellen oder sich (gratis) bedienen können. Das System funktioniere gut, es gebe zahlreiche «Mitnahmebibliotheken» mit Kinder- und Jugendbüchern an den Schulen. Oder eben eine direkt vor Raaflaubs Chalet am See.

Thomas Raaflaub hat noch viele Ideen und man spürt, er hat in Estavayer eine Heimat gefunden. Er bestätigt: «Ich habe mich sehr gut integriert. Man kennt mich auf der Strasse, spricht mich im Grossverteiler an.» Und er habe in den sechs Monaten als Koordinator von «EstaSympa» mehr Anerkennung und Wertschätzung erlebt als in 40 Jahren in Gsteig-Feutersoey.

Umzug nach Köniz
Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses vor gut zwei Jahren hat Narben hinterlassen, schmerzliche Narben. «Es ist viel Geschirr zerschlagen worden», sagt der ehemalige Schulleiter. Er und seine Frau Erika ziehen nun die Konsequenzen: «Wir werden dem Saanenland den Rücken kehren.» Das Haus in Feutersoey steht zum Verkauf, der Umzug in sein Elternhaus in Köniz ist nur eine Frage der Zeit. Das Haus soll umgebaut werden, das Baugesuch läuft. Die Federführung für den Umbau hat Sohn Simon, der zusammen mit zwei Partnern ein Büro in Langenthal betreibt. Nach dem Umbau sei es ein neues Haus, sagt Thomas Raaflaub. Und das sei wichtig, denn «es ist nicht so einfach, ins Elternhaus zurückzukehren». Auch wenn sich das Ehepaar auf den Umzug freut, ganz abbrechen wollen die beiden die Zelte in der Region nicht. «Wir haben Freunde hier und wollen den Kontakt zu ihnen behalten. Aber es muss nicht unbedingt eine Wohnung im Saanenland sein – das Obersimmental ist uns auch recht.»

Der Wegzug aus dem Saanenland in die Stadtnähe hat aber auch andere Gründe. «Wir haben uns schon länger Gedanken gemacht über unser Alter», sagt Thomas Raaflaub. «Wenn man nicht mehr Auto fahren kann, ist Feutersoey nicht ideal.» Und zu denken gebe ihnen auch die Gesundheitsversorgung in der Region. Nun spricht Raaflaub als Politiker: «Das Spital in Saanen ist geschlossen und auch die Hausärzte sind nicht mehr ‹taufrisch›. Das Saanenland hat etliche Chancen verpasst und es muss sich gut überlegen, wohin die Zukunft führt – auch touristisch.» So sehe er seine Situation nun auch als Chance, getreu dem Spruch: «Wenn etwas nicht so läuft, wie du es dir vorstellst, so stell dir etwas anderes vor.» Das versuche er nun.

Er habe das Saanenland vierzig Jahre lang durch die rosarote Brille gesehen, sagt er zum Schluss des Gesprächs mit Blick auf den Neuenburgersee. «Ich hatte eine grosse Affinität zum Saanenland, es war meine Heimat, mein Mittelpunkt.» Nun sei dieser Mittelpunkt weg, das Saanenland nicht mehr seine Heimat. «Aber durch meine Austauschprojekte habe ich gemerkt, dass es überall in der Schweiz schöne Schulen, gute Kollegien, fortschrittliche Schulleitungen, innovative Schulkommissionen gibt.» Davon könnten sich die Beteiligten der Schulen im Saanenland grosse Stücke abschneiden.


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