Chinas erstaunliche ideologisch-ökonomische Mixtur

  24.11.2017 Leserbeitrag, Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft

China ist wieder da – mit der Betonung auf «wieder». Es ist uns in Europa viel zu wenig bewusst, dass das Reich weit im Osten dem Abendland während tausend Jahren in beinahe allen Gebieten überlegen war. In der Zeit zwischen 500 und 1500, also in jener Epoche, die bei uns als Mittelalter bezeichnet wird, waren die Chinesen den Europäern in Technik und Wissenschaft um mehr als nur eine Nasenlänge voraus. China konnte beispielsweise seit dem 6. Jahrhundert Stahl herstellen. Im Westen war das erst ab 1846 möglich. Auch die Papierherstellung und den Buchdruck erfanden die Chinesen vor den Europäern, führend waren sie auch in Astronomie, Mathematik, Physik und Chemie. Noch im 18. Jahrhundert lag der Anteil Chinas an der weltweiten Wirtschaftsproduktion bei 50 Prozent. Erst danach kam Europa so richtig in Fahrt und ins Zentrum des globalen Geschehens.

Die Volksrepublik China ist also nicht eine neue, sondern eine uralte Macht, die sich neu erfindet. Ihre Innovationskraft, ihr Erfindungsreichtum, ihr technologisches Können wurzeln tief in der Geschichte. Dass sie heute wieder, mit Erfolg, ganz an die Spitze drängt, ist deshalb nicht erstaunlich. Erstaunlich ist schon eher, mit welcher politischideologisch-ökonomischen Mixtur das Reich der Mitte so erfolgreich ist. Formal und ideologisch ist China ein kommunistisches Land, eine Parteidiktatur, wirtschaftlich jedoch ist es kapitalistisch. Es handelt sich sogar um eine ziemlich exzessive, elitäre Form des Kapitalismus. Zwar steigt der Wohlstand, es gibt eine wachsende Mittelschicht. Doch auch die Zahl der Superreichen wächst – und gleichzeitig auch die Kluft zwischen Arm und Reich. Die arbeitenden Massen haben kaum Rechte, werden in teils unwürdigen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet, unabhängige Gewerkschaften passen nicht ins System. Und über allem wacht die Partei – oder mittlerweile vor allem Parteichef und Staatspräsident Xi Jinping. Die zarten Ansätze einer politischen Öffnung des Systems werden zunichtegemacht, ideologisch wird der Kommunismus wieder ins Zentrum gerückt, dies allerdings bloss noch als stabilisierendes Herrschaftsinstrument. Gleichzeitig zeigt sich die Führung jedoch auch lernfähig und flexibel: Man erhöht den politischen Druck, gewährt aber Freiheiten anderer Art. Einerseits werden die Menschen dank Digitalisierung fast lückenlos überwacht. Anderseits lässt das Regime in einigen Bereichen die Leine etwas lockerer. Immer mehr Leute können sich deutlich mehr leisten als früher, sie gönnen sich Auslandreisen. In einigen von der Partei definierten Bereichen darf auch offen debattiert werden, etwa über Korruption, über Probleme im Bildungs- und Gesundheitswesen. Nur eines sollte man unterlassen: Grundsatzkritik am politischen System oder der Führung. Dann schlägt das System voll zu – und man wird auf die eine oder andere Art aus dem Verkehr gezogen.

Für die westlichen Demokratien wird China eine immer gewaltigere Herausforderung, und zwar gleich in dreifacher Hinsicht. Zum einen als immer stärkerer wirtschaftlicher Konkurrent. Zweitens scheint China einen erfolgversprechenden Weg zu gehen, bei dem die marktwirtschaftliche Öffnung von der politischen völlig entkoppelt wird; die bisher gültige Regel, dass ökonomischer Erfolg die Forderung nach mehr Demokratie nach sich zieht, gilt (zumindest bis jetzt) für China nicht. Und drittens finden all jene westlichen Politiker an China Gefallen, die mit autoritären Modellen sympathisieren und experimentieren. Beispiel Donald Trump: Wie auch immer sich die Beziehungen zwischen China und den USA entwickeln werden – Lektionen in Sachen Demokratie und Menschenrechte wird sich Peking aus Washington wohl nicht anhören müssen. Und freie Medien verachten Trump und Xi Jinping gleichermassen. Beispiel Viktor Orban: Ungarns Regierungschef hat bei einem Besuch in China im Mai dieses Jahres den Verzicht auf Mindeststandards bei Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten als ein durchaus lobenswertes Prinzip «gegenseitiger Akzeptanz» bezeichnet. Das gefällt der chinesischen Führung – und muss uns Sorgen machen.

JÜRG MÜLLER
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