Wirtschaftliche Entwicklung im Saanenland

  14.11.2017 Saanen

Wenn das Tageslicht sich früher zurückzieht, ist es Zeit für die zur Tradition gewordenen «Abesitza» im Landhaus in Saanen. Hans Moratti hat die Wanderbewegung der Maurer aus Sicht seiner Familie erzählt und wusste die zahlreichen Zuhörer zu begeistern.

LÉONIE MÜLLER
Im Namen der Kulturkommission begrüsste Beat Marmet die vielen Interessierten, die sodann mit Hans Moratti in die Geschichte um 1798 eintauchten. In der Schweiz herrschte Bürgerkrieg, Napoleon marschierte ein, sorgte für Ordnung und regierte bis 1815. Viele junge Männer mussten in den Kriegen von Napoleon ihr Leben lassen. Hinzu kamen diverse Auswanderungswellen, berichtete Hans Moratti. 1815 die erste wegen eines Klimawandels, die zweite aus wirtschaftlichen Gründen ab 1845. Diese hat trotzt Industrialisierung bis 1890 angehalten. Anschliessend verliessen pro 10 Jahre rund 40 000 bis 50 000 Menschen die Schweiz, bis die Auswanderungswelle 1930 zum Stillstand kam.

Während die Schweizer andernorts eine Bleibe und Arbeit für ihren Lebensunterhalt suchten, kamen Zuwanderer aus anderen Ländern in die Schweiz. Die vielen italienischen Gastarbeiter wurden gerne aufgenommen, waren sie doch handwerklich sehr begabt. Wirtschaftsaufbau im Bereich von Dampfmaschinen, in der Textilverarbeitung und der chemischen Industrie hatten zur Folge, dass der Bahnbau forciert wurde. Die Idee einer Nord-Süd-Verbindung nahm Gestalt an und wurde mit dem Bau des Gotthardtunnels von 1872 bis 1882 verwirklicht, wo auch der Urgrossvater von Hans Moratti Arbeit fand. Ein richtiger Bahnbau-Boom folgte und ein Tunnel nach dem anderen entstand unter den fleissigen Händen der Männer aus dem südlichen Nachbarland. Die Politiker waren gefordert und verabschiedeten 1934 wegen der Wirtschaftskrise ein Gesetz. Dieses kontrollierte den Zustrom der Arbeitssuchenden. Unter dem sogenannten Saisonnierstatut wurde ihnen eine Arbeitsbewilligung von zehn Monaten erteilt. Allerdings war es ihnen nicht erlaubt, ihre Familie mit in die Schweiz zu nehmen. Nach fünf bis zehn Saisons konnte eine Jahresbewilligung beantragt werden. Die Arbeiter wohnten oftmals in Baracken oder in ärmlichen baufälligen Gebäuden. 1954 kam es mit Italien zu einem speziellen Staatsvertrag, der Arbeitnehmern aus dem Südstaat den Vorrang gab. Gegen die grosse Zuwanderung kämpfte Nationalrat James Schwarzenbach, doch seine Initiative wurde 1970 an der Urne verworfen, was leider mit der Zweitwohnungsinitiative von Franz Weber 2012 nicht geschehen sei, sagte Hans Moratti am «Abesitz».

Das Saanenland wird neue Heimat
Vorfahren von Hans Moratti verpflichteten sich bei der Pariser Firma Boyan Boyer & Co, die den Auftrag hatte, die Bahnlinien der MOB zu bauen, und halfen am Bahnbau der MOB von 1900 bis 1905 tatkräftig mit. Sie haben Italien, ihr Dorf Cané im Valcamonica verlassen, um Arbeit zu suchen. Wo genau sein Grossvater aufgewachsen ist, sei ihm nicht bekannt, meinte Hans Moratti, aber allem Anschein nach habe er eine Frau aus dem Saanenland geheiratet. Bei der Geburt des vierten Kindes ist die Frau gestorben und Frauen aus dem Saanenland halfen dem Grossvater, die Kinder aufzuziehen. Dies ist wohl auch der Grund, dass die Kinder zu Hause nicht italienisch gesprochen haben. In eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, sprach der Vater von Hans Moratti nie über seine Jugend. Auch nach dem Bahnbau waren die Zuwanderer gern gesehene Arbeiter beim Aufbau von Hotels und weiteren Bauprojekten. Die veränderten politischen Verhältnisse brachten den Grossvater dazu, sich einbürgern zu lassen. Damals behandelte der Grosse Rat, nicht die Gemeinde, dieses Geschäft, das zum Glück für die Familie, mitten in der Wirtschaftskrise und den Kriegsjahren, angenommen wurde. Auch eingebürgert wurden die Gebrüder Moratti (1940) und die Familie Bonaria (1942), die ebenfalls aus Cané stammt. Sie haben sich sehr gut im Saanenland integriert. «Wahrscheinlich, weil sie einheimische Frauen geheiratet haben und das Saanenland topografisch dem Valcamonica sehr ähnlich ist», sagte Hans Moratti. Sein Vater machte eine Lehre als Gipser in Langenthal. In den 50er-Jahren wurden gleich drei Moratti-Firmen gegründet: 1957 William Moratti, 1958 Moritz und René Moratti, 1959 Angelo Moratti vormals Hehlen Moratti. Der Vater reiste oftmals selbst nach Italien, um Arbeiter für seine Firma zu rekrutieren. Auch Hans Moratti hat Cané im Valcamonica besucht. Seine Vorfahren mussten das Tal verlassen, weil sie keine Arbeitsmöglichkeiten hatten. Mittlerweile ist das Tal gut erschlossen und für Touristen sehr empfehlenswert. Die Tradition der Familie Moratti läuft über die 1985 gegründete Moratti Mettlen AG weiter. «Die Söhne arbeiten in der Firma, und der Enkel spielt gerne mit Bagger und Autos», freut sich Hans Moratti mit einem Augenzwinkern auf die Zukunft.

Gitarrenklänge stimmten die «Abesitz»-Besucher auf den Vortrag von Hans Moratti ein und setzten weitere musikalische Akzente. Paul Ader und Nick Jaggi entlockten ihren Instrumenten fetzige, rockige, jazzige, aber auch Soul-und Blues-Melodien. Gerade mal eine Hand voll gemeinsame Proben hatten sie vor ihrem Auftritt. Paul Ader wird nach dem Gymnasium unter anderem die Swiss Jazz Schule besuchen und Nick Jaggi hat eben seine Lehre als Zimmermann begonnen. Die Gitarre wird beide weiterhin auf ihrem Weg in die Zukunft begleiten.

Weitere «Abesitza» am Mittwoch, 15. und Mittwoch, 22. November um 20.00 Uhr im Landhaussaal in Saanen.


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