Anfänge und Abschiede (2. Teil)

  26.01.2018 Kirche, Gesellschaft

Die westliche Gesellschaft ist vielerlei Veränderungen unterworfen. Die Einwanderung aus zumeist muslimischen Ländern, eine tiefe Geburtenrate sowie ein Bedeutungsverlust der etablierten Institutionen führen dazu, dass die herkömmlichen Kirchen fortwährend Mitglieder verlieren. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass die Anzahl der sogenannten Kasualien sinkt: Heute finden weniger Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Abdankungen statt als vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren. Lebensart und Lebensgewohnheiten wandeln sich, der Einzelne kann und muss aus einer Vielzahl von Möglichkeiten auswählen. Die Vervielfältigung von Lebensformen bringt erhebliche Veränderungen, zum Beispiel für Ehe und Familie, mit sich: Es gibt immer mehr Einpersonenhaushalte und alleinerziehende Mütter oder Väter; die Zahl der Familien, in welchen Kinder von unterschiedlichen, homo- oder heterosexuellen Elternteilen gemeinsam mit Halbgeschwistern und Stiefvater oder -mutter leben, steigt. Solche Familienkonstellationen sind kompliziert und anfällig für Konflikte.

Konkurrenz für die Kirche
Diese Entwicklung verändert die Kasualien. Diese können sich nicht mehr darauf beschränken, in immer derselben Art und Weise einen bestimmten Lebensübergang zu gestalten, sondern sind gehalten, der jeweils besonderen Situation Rechnung zu tragen. Der Vielfalt von Lebensentwürfen muss nunmehr eine reiche kirchliche Praxis entsprechen. Zudem äussern immer mehr Beteiligte den Wunsch, die Kasualhandlung mitzugestalten. Die Art der Teilhabe orientiert sich am Milieu jener, die den Anlass für die zur Debatte stehende Feier darstellen; leitend sind in der Regel die ästhetischen Vorlieben und das soziale Umfeld. Wichtig ist ebenso, dass die Veranstaltung erlebbar wird und sinnliche Erfahrungen möglich macht. Zu diesen Veränderungen gesellt sich der Umstand, dass die etablierten Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten das Ritenmonopol verloren haben. Insbesondere an den Übergängen des Lebens ist ihnen Konkurrenz erwachsen; bei Trauungen und Abdankungen, zum Beispiel, gibt es inzwischen weltliche Alternativen.

Die kirchlichen Feierlichkeiten rund um Taufe, Trauung, Konfirmation und Abdankung sind in der Spätmoderne vielerlei Änderungen unterworfen und stehen neuen Anforderungen gegenüber. Noch immer werden sie, zurückhaltend, aber stetig von einer Mehrheit der Bevölkerung in Anspruch genommen. Ihre Funktion und ihre Stärken sollen im Folgenden dargestellt werden.

Die Taufe: Das Leben ist ein Geschenk
Die Taufe auf den Namen des dreieinigen Gottes ist das Merkmal des christlichen Lebens. Sie ist ein Zeichen der evangelischen Einsicht, dass der Mensch das Leben nicht sich selbst verdankt, sondern als Geschenk Gottes empfängt.

In den Anfängen der christlichen Kirche ist es üblich, Erwachsene zu taufen. Die Feierlichkeiten finden mehrheitlich in der Nacht auf den Ostersonntag statt und stellen ein vielschichtiges Ritual dar; Unterricht und Einführung in den christlichen Glauben gehen voraus, die Feier selbst ist verbunden mit dem öffentlichen Bekenntnis der Täuflinge, fortan das Leben eines Christenmenschen führen zu wollen. Ab dem 4. Jahrhundert verliert die Kirche die Bewertung als Sekte und der christliche Glaube wird zur gängigen religiösen Praxis; von nun an ist es üblich, Säuglinge und Kinder zu taufen. Die Taufe ist jetzt weder ein Bekenntnis noch ein Akt der Entscheidung, sondern wird getrennt von der Überzeugung des Täuflings und ausschliesslich zu einem Zeichen der Gnade Gottes. An dieser Praxis halten die Reformatoren fest. Die sogenannten Täufer oder Wiedertäufer dagegen lehnen die Kindertaufe ab: Ihnen ist daran gelegen, die Taufe wieder als persönliche Entscheidung und Bekenntnis zu verstehen; dabei nehmen sie in Kauf, Erwachsene, die bereits als Kinder getauft wurden, ein zweites Mal, eben «wieder» zu taufen. Insbesondere Luther und Zwingli wenden sich scharf gegen diese Praxis und halten am Verständnis der Taufe als ein Zeichen der Zuwendung Gottes fest.

Dabei ist es bis heute geblieben. In den evangelischen Kirchen werden in der Regel Säuglinge und Kleinkinder getauft. Die Feier verweist auf die christliche Erkenntnis, dass des Menschen Dasein auf Zugehörigkeit gründet; sie ist ein Zeichen der Freundlichkeit Gottes, die sich, einem Regenbogen gleich, von der Geburt bis zum Tod spannt.

Die Konfirmation: mündiges Christsein
Die Ursprünge der Konfirmation liegen im Taufunterricht: In den Anfängen der Kirche ist die Einführung in den christlichen Glauben eine Voraussetzung für die Taufe eines Erwachsenen. Nach und nach setzt sich die Säuglingstaufe durch und zwei Elemente des ursprünglich vielschichtigen Rituals, die Bitte um den Heiligen Geist und die Feier des Abendmahls, finden fortan zu einem späteren Zeitpunkt in eigenständigen Feiern statt; diesen geht wiederum ein Unterricht voraus. Die Reformatoren sprechen sich gegen eine Vielzahl von Feierlichkeiten aus, behalten aber die Unterweisung als gleichsam nachgeholte Taufkatechese bei; Martin Bucer, Reformator in Strassburg, verbindet diesen Unterricht mit gottesdienstlichen Bestandteilen und begründet die Konfirmation. Diese dient in den folgenden Jahrzehnten dazu, Glaube und Sittlichkeit zu fördern, im 19. Jahrhundert wird sie zu einem Aufnahmeritual in die bürgerliche Gesellschaft.

In der Spätmoderne sind verschiedene Deutungen der Konfirmation anzutreffen: Sie wird zum einen als Abschluss und Vollendung der Taufe betrachtet; der Unterricht, welcher dem Konfirmationsgottesdienst vorausgeht, soll der Einführung in den christlichen Glauben dienen. Andere halten die Konfirmation entweder für eine Eingliederung in die bestehende Ordnung oder für eine Auseinandersetzung mit Autorität und Tradition. Dritte sehen in ihr ein Bekenntnis zum christlichen Glauben, eine Segenshandlung oder schlicht den feierlichen Abschluss des kirchlichen Unterrichtes. Den unterschiedlichen Lesarten gemeinsam ist das Ansinnen, die Konfirmation als Darstellung mündigen Christseins und beherzten Erwachsenwerdens zu verstehen.

Die Trauung: Bitte um den Segen
Bis zum 19. Jahrhundert gilt eine kirchliche Amtshandlung als Rechtsakt. Mit sogenannten Personenstandsgesetzen oder bürgerlichen Registern ändert sich diese Praxis: Fortan werden Geburt, Heirat und Tod von den staatlichen Behörden beurkundet. Diese Änderung führt dazu, dass die Kirchen eine Hochzeit nur nach ihrer zivilrechtlichen Grundlegung vornehmen dürfen. Eine evangelische Trauung ist nicht länger ausschlaggebend für die Gültigkeit einer Ehe, sondern bietet Raum für das öffentliche Versprechen des Brautpaares zueinander sowie die Bitte um den Segen Gottes. Der Gottesdienst redet der Verbindlichkeit und der Dauer das Wort, er wehrt der Idealisierung und spricht von einer ganzheitlichen Verbindung zweier Menschen.

In der Moderne orientieren sich die westlichen Gesellschaften am kulturellen Leitbild der Liebesheirat. Die Ehe wird nicht mehr als wirtschaftliche Zweckgemeinschaft, sondern als eine Verbindung verstanden, die auf Gefühlen beruht. Die Trauung bildet diesen Sachverhalt ab und dient den Brautpaaren dazu, die persönliche Liebesgeschichte öffentlich darzustellen. Freilich ist eine Beziehungsgemeinschaft krisenanfälliger und zerbrechlicher als eine Verbindung, die aus Gründen der Vernunft eingegangen wird. Die kirchliche Hochzeit verweist auf diese Erfahrung und bittet um Gelingen und Bestehen; sie entfaltet den Wunsch der Beteiligten, sich gleichsam in den Schutzraum des Heiligen zu begeben.

Die Abdankung: das Tor zum Leben
Die kirchliche Bestattung gewährt den Umgang mit dem Tod und den Toten. Auch diese Kasualhandlung ist in der Moderne erheblichen Veränderungen unterworfen: Bis zum 18. Jahrhundert ist eine Kultur des Abschieds der feudalen Schicht vorbehalten, erst das Bürgertum öffnet diese Lebensart und macht sie allgemein zugänglich. Von nun an wird das Sterben eines Einzelnen öffentlich begangen, der Tod als solcher ereilt den Menschen in der Regel im Privaten. Heute ist es meist umgekehrt: Wir sterben in öffentlichen Institutionen, in Pflegeheimen oder Spitälern, und nehmen Abschied im Privaten. Die spätmoderne Gesellschaft übergibt den Umgang mit Verstorbenen in professionelle Hände, sie verdrängt nicht so sehr den Tod, wohl aber die Toten.

Der evangelische Bestattungsgottesdienst würdigt das Leben des Verstorbenen. Er bedenkt die christliche Erkenntnis, dass sich des Menschen Existenz nicht in der Summe seiner Taten (oder Untaten!) erschöpft und verortet die Würde des Menschen in der Zuwendung Gottes. Die Abdankung spricht von Glück und Gelingen, von Schuld und Versagen und bezeichnet den Verstorbenen als einen unverwechselbaren Teil der Geschichte Gottes; sie zeugt für die Hoffnung, dass die Liebe Gottes dem Tod standzuhalten vermag und benennt den Tod als ein Tor zum Leben.
Den Hinterbliebenen eröffnet der Bestattungsgottesdienst einen Raum der Klage und des Dankes; er versetzt sie in die Lage, die Beziehung zu einem Lebenden in die Erinnerung an einen Toten zu überführen. Der Gottesdienst trägt dazu bei, dass die Angehörigen fortan ein Leben in der Erinnerung an den Verstorbenen führen können.

BRUNO BADER


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