Harte Bretter bohren – mit Leidenschaft und Augenmass zugleich

  26.01.2018 Saanenland, Kolumne

Sie sind überempfindlich, streitsüchtig, hasserfüllt, intolerant, rachedurstig – und sie sind vor allem die mächtigsten Männer in ihrem Land. Ob Amerikas Donald Trump, Ungarns Viktor Orban, Polens Jaroslaw Kaczynski oder der Türke Recep Tayyip Erdogan: Den Autokraten neuen Typs steht für ihre Politik nur der Holzhammer zur Verfügung. Nichts ist ihnen ferner als jenes Verständnis von Politik, das der deutsche Soziologe Max Weber (1864- 1920) einmal in die Worte gekleidet hat: «Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass zugleich.»
Auch wenn sie nicht im Trend liegen – es gibt immer noch viele Spitzenpolitikerinnen und -politiker, die diesem Motto nachleben. Paolo Gentilone zum Beispiel. Der Politiker des linksliberalen Partito Democratico ist seit Dezember 2016 Ministerpräsident Italiens. Er war lange in der Lokalpolitik tätig, ist seit 2001 Parlamentsmitglied, war einst Kommunikationsminister und ab November 2014 Aussenminister in der Regierung des ungestümen, konfrontativen und mitunter arrogant wirkenden Matteo Renzi. Seit der gescheiterten Staatsreform und dem Rücktritt Renzis führt Gentilone eine Übergangsregierung – bis zu den Wahlen vom 4. März 2018.
Der zurückhaltende, stille Macher gilt mittlerweile als Stabilitätsfaktor in Italien. Die Wirtschaft hat wieder Fahrt aufgenommen. Selbst politische Gegner zollen dem ruhigen, bedachten Mann Anerkennung. Er drängt nicht ins Rampenlicht, er sucht nicht den grossen Auftritt, er ist nicht Stammgast in Talk-Shows, es ist ihm offensichtlich auch nicht wohl, wenn er im Mittelpunkt steht. Er ist einfach ein solider Politiker ohne Allüren, der sein Handwerk auf allen Stufen gelernt hat. Kein Wunder, dass er gemäss Umfragen mittlerweile der populärste Politiker Italiens ist.
Doch das wird ihm wenig nützen. Das linksliberale Lager ist gespalten, die Umfragewerte für die linke Mitte sind nicht glänzend, trotz guter Wirtschaftsdaten und einem glaubwürdigen Regierungschef. Gut im Wind segelt die populistische Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos – trotz Totalversagens der Cinque-Stelle-Stadtpräsidentin von Rom. Und, kaum zu glauben, auch ein alter Bekannter taucht wieder aus der Versenkung auf: Silvio Berlusconi. Er darf zwar bei einem Wahlsieg seit seiner definitiven Verurteilung wegen Steuerbetrugs selbst kein Regierungsamt mehr ausüben. Doch er gibt wieder den begnadeten Wahlkämpfer, erinnert das Volk an seine diversen «glorreichen» Regierungszeiten und verspricht erneut das Blaue vom Himmel – obschon sich die meisten seiner Wahlversprechen jeweils in Luft auflösten und er ein schwieriges Erbe hinterlassen hat: Bei Berlusconis Absetzung 2011 stand sein Land kurz vor dem Bankrott.
Ob Grillos Fünf-Sterne-Bewegung, Berlusconis Rechtsallianz oder doch noch der Partito Democratico obenaus schwingen wird – die Regierungsbildung wird ähnlich schwierig werden wie in Deutschland, weil wahrscheinlich keine Gruppierung die absolute Mehrheit erringen wird. Es wäre nicht allein für Italien, sondern auch für Europa tragisch, wenn dieses EU-Gründungsmitglied in die Hand von Hasardeuren fiele. Es scheint fast so, als ob immer mehr Leute in immer mehr Ländern dieser Art von Politikern mehr vertrauten als jenen, die gelernt haben, «harte Bretter mit Leidenschaft und Augenmass» zu bohren. Aber vielleicht überraschen uns ja die Italienerinnen und Italiener positiv.

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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