FIS-Punkte – ein Buch mit sieben Siegeln?

  13.02.2018 Sport, Saanenland, Saanen, Schule, Ski

Mein Gesprächspartner Christian Steudler wuchs mit seinen zwei Geschwistern zuhinterst auf dem Hasliberg, im Dorf Reuti, auf. Er erzählt, dass er nach vier Jahren Primar- die Sekundarschule im 500 Meter tiefer gelegenen Meiringen besucht habe. Möglich, dass ihn sein Zick-Zack-Schulweg – während fünf Jahren täglich tal- und bergwärts, weil es damals noch keine Bahn gab und sein Vater als Schüler auch immer zu Fuss gegangen war – geprägt hat. Jedenfalls sei die gute physische Grundkondition im Erwachsenenalter nie ein Nachteil gewesen. Die Ausdauer vielleicht eher, sofern man darunter stur versteht.

Fis und FIS sind für Christian Steudler wohlbekannte Begriffe; Fis, weil Christian im Lehrerseminar Geige und Klavier spielte und FIS, weil er in der «Fédération Internationale de Ski» während vieler Jahre den Job des Alpinkoordinators ausübte.

Auf dem Weg …
Lehrkräftemangel im Kanton Bern führte im Jahr 1962 dazu, dass es den Seminaristen Christian im Rahmen eines Landeinsatzes ins Saanenland verschlug. Vorgesehen war ein Einsatz in der Schule in Abländschen. Weil er nicht «orgele» konnte, blieb er in Saanen hängen. «Die Arbeit mit den 43 Schülern der siebten bis neunten Klasse war fordernd, aber spannend. Ich lernte viel und im Frühling 1963 wurde ich als Lehrer angestellt.»

«Saanen hatte schon damals einen guten Ruf in Skisportkreisen. Während meinem viereinhalbjährigen Aufenthalt in Saanen blieben mir die talentierten, einheimischen Skifahrer nicht fremd. Und als Präsident des SC Saanen, den ich zwei Jahre führen durfte, erhielt ich Einblick in die Organisationsstrukturen des oberländischen und des nationalen Skiverbandes.»

«Obwohl ich mein erstes Skirennen als Erstklässer zufälligerweise auch gewann (lacht), entwickelte ich mich in Saanen zwar nicht zu einem Champion, aber zu einem akzeptablen Skirennfahrer. Zu jener Zeit starteten an den Regionalrennen um die 200 und oft auch 400 Teilnehmer. Das Problem war, eine gute Startnummer zu erhalten, denn die Auswärtigen und jene, die man nicht kannte, mussten regelmässig mit den letzten Startnummern vorliebnehmen. Ich erinnere mich gut an ein Rennen auf Melchsee-Frutt, bei dem man die Fahrer in den tiefen Gräben kaum mehr sah. Man hatte keine Chance!»

FIS-Punkte
Das war so: «In der Funktion als BOSV-Regionaltrainer besuchte ich in Andermatt einen Trainerfortbildungskurs. Elsa Roth, die damalige Zentralsekretärin des Skiverbandes, stellte das FIS-Punkte-System vor, das sie als Leiterin einer Arbeitsgruppe für die Olympischen Winterspiele in Cortina d’Ampezzo (1956) entwickelt hatte. Ich war begeistert und sagte mir: So etwas müssen wir auch einführen.»

Von der Idee zur Tat
«Im Jahr 1970 wurde ich Alpinchef im Berner Oberländischen Skiverband (BOSV). Unverzüglich begann ich, die Oberländer Skirennen nach dem FIS-Punkte-System auszurechnen – von Hand und mit Hilfe von Tabellen.»

Das PunktesSystem der Elsa Roth basierte auf der Berechnungsformel:
P = ((F / To) x Tx) – F
P = Wettkampfpunkte
F = F-Wert
To = Zeit des Siegers, ausgedrückt in Sekunden
Tx = Zeit des Wettkämpfers, ausgedrückt in Sekunden.

«Ohne nun eine Mathematiklektion zelebrieren zu wollen, möchte ich das Wesentliche kurz erläutern. Der Kern des Punkte-Systems liegt in den Zeitabständen zur Siegerzeit. Je grösser der Zeitabstand zum Sieger, umso höher die Zahl der Punkte. Dieser Punktzahl wird dann noch der Wettkampfzuschlag zugerechnet. Mit diesem Penalty, wie der Wettkampfzuschlag auch bezeichnet wird, sollte der Verschiedenartigkeit der einzelnen Wettkämpfe Rechnung getragen werden. Der errechnete Wert der zwei besten Resultate wird in die Swiss-Ski-Punkteliste eingetragen, und diese wird dann zur Ermittlung der Startlisten herangezogen. Zusammengefasst und vereinfacht ausgedrückt: je tiefer der Wert – umso besser die Startnummer.»

«Das FIS-Punkte-System, das ich beim BOSV einführen durfte, funktionierte auf Anhieb. Die Organisatoren der Skirennen und die Rennläuferinnen und -läufer waren zufrieden. Bald schon fragten andere Regionalverbände nach unserm System. Dölf Ogi*, der damals Direktor des Schweizerischen Skiverbandes war, fragte mich, ob ich die Punktelisten für alle Regionalverbände erstellen würde. Ich sagte zu, mit der Anmerkung: ‹Das kostet dann viel Arbeit›». «Also», sagte er, «dann mach es!» «In guter Erinnerung bleiben die gut 1000 Arbeitsstunden, die ich für die Auswertung aller Skirennen einsetzte. Zu Beginn der 70er-Jahre liess die PTT einen «Höllen»-Computer in meinem heimischen Büro installieren. Von nun an kontrollierten meine Frau Thea und ich sämtliche Ranglisten auf deren Richtigkeit. In einer EDV-Firma in Bern wurden die Punkte der Skifahrerinnen und Skifahrer zuerst auf Lochkarten übertragen und in einem zweiten Schritt in Listen umgewandelt.»

«Im Jahr 1976 wurde ich, parallel zu meinem Beruf als Lehrer, ‹Sachbearbeiter SSV-Punkte› beim Schweizerischen Skiverband. Als ich später zur FIS wechselte, erfasste Thea die Daten – und das noch vier Jahre lang in ihrem ‹Stübli› bei uns zu Hause.»

Alpinkoordinator bei der FIS
«Im Jahr 1988, mit 25-jähriger Erfahrung als Volksbildhauer im Rucksack, wechselte ich zur FIS nach Oberhofen am Thunersee. Als Alpinkoordinator war ich permanent mit den Repräsentanten der 118 Mitgliederverbände weltweit in Verbindung. Die Tage waren ausgefüllt mit der Gestaltung des alpinen Rennkalenders, dem Erfassen der FIS-Punktelisten und viel anderem mehr. Wohlverstanden, bis Anfang des Jahres 1989 ohne Computer! Generalsekretär Gian-Franco Kasper, seit 1998 bis dato FIS-Präsident, unterstützte mich beispielhaft bei der Einführung der digitalen Einrichtungen (Computer, Drucker, Software). Auf seine Initiative wurde ein italienischstämmiger EDV-Doktorand engagiert. Die Aufgabe war, eine Computersoftware zu entwickeln, um einerseits die Ranglisten der alpinen Wettbewerbe zeitgerecht erfassen und andererseits die Fülle von Reglementen, Weisungen, Berichten, Formularen usw. elektronisch in der weiten Welt des internationalen Skiverbandes anbieten zu können. Die Effizienz im Bereich der Alpinkoordination entwickelte sich schneller als gedacht. Die Digitalisierung führte letztlich dazu, dass ich immer weniger zu tun hatte. Die Akzeptanz in meine Arbeitsleistung schwand zusehends. Entmutigt und gemobbt verliess ich die FIS nach 13 Arbeitsjahren.»

Zurück zu den Wurzeln
Christian Steudler kam mit wertvollen Erfahrungen zurück ins Saanenland. Im gesunden Umfeld seiner Familie fand er den Tritt, unterrichtete an der Primarschule an der Lenk und im Turbach. Auch liess er sich zum Gordon-Trainer ausbilden. Im Kommunikations-Modell des Psychologen Thomas Gordon fand er wertvolle Konfliktlösungs-Instrumente. Das erworbene Wissen, angereichert mit eigenen Erfahrungen, gab er an interessierte Einzelpersonen und Organisationen weiter.

Christian Steudlers Arbeit rund um die SSV-Punkte und die beispielhafte Managerarbeit als Alpinkoordinator bei der FIS waren bahnbrechend. Die alpinen U16-Diamanten im Saanenland, Bigna Däpp (Enkelin von Christian Steudler), Astrid Biehler, Jasmin von Siebenthal, Livio Herrmann, Diego Marti und weitere mehr sind Christian bestimmt dankbar, dass sie Startnummern überziehen können, die ihrer momentanen Leistungsfähigkeit entsprechen – denn sie sind ja nicht Ski fahrende Bobfahrer, wie Christian Steudler einst einer war.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE EUGEN DORNBIERER-HAUSWIRTH

* Adolf Ogi war von 1987 bis 2000 Bundesrat und von 2001 bis 2007 Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden im Auftrag der UNO.


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