«Meine Famile holt mich immer wieder auf den Boden zurück»

  16.03.2018 Schönried, Interview, Ski

Mike von Grünigen gilt als der beste Rennskifahrer, den das Saanenland je hervorgebracht hat. Sein Sohn Noel möchte in seine grossen Fussstapfen treten. Der Weg ist zwar lang, im Europacup konnte er aber schon Fuss fassen. Vater und Sohn im Interview.

BLANCA BURRI

Noel von Grünigen, auf welchem Platz bewegen Sie sich im Europacup etwa?
NvG:
Im Moment etwa zwischen Rang 20 und 40 und auf der Weltrangliste auf dem 85. Platz, Genaueres erfahre ich Ende Saison.

Ist der Schwierigkeitsgrad im Europacup gegenüber den FIS-Rennen viel höher?
NvG:
Ja, die ausgesteckten Läufe sind um einiges schwieriger als bei den normalen FIS-Rennen.

Macht es Sie, Mike, nervös, am Pistenrand zu stehen und mit Ihrem Sohn mitzufiebern?
MvG:
Früher war ich für mich selbst verantwortlich. Ich konnte entscheiden, was gut für mich ist und was nicht. Jetzt kann ich keinen direkten Einfluss mehr nehmen. Während den JO-Rennen machte mich das nervös. Im JO-Alter sind die Kinder nämlich noch nicht so erfahren und können durch kleine Fehler Ausfälle provozieren, die auch Verletzungen nach sich ziehen können. Inzwischen ist Noel auf einem so hohen Niveau, dass ich Vertrauen habe. Trotzdem bin ich immer sehr angespannt, wenn er fährt.

Ist es für Sie in Ordnung, wenn Ihr Vater bei den Rennen anwesend ist?
NvG:
Ich schätze es. An einem Rennen ist es meist recht stressig, viele Leute sind anwesend und jeder möchte mir noch einen wichtigen Tipp mitgeben. Meist holt mich mein Vater ein bisschen auf den Boden. Er bringt Ruhe in das Ganze, wenn er mir klarmacht, dass es wichtigere Probleme gibt, als die kleinen Details im Skirennsport. Er zeigt mir oft auf, was wirklich zählt. Er ist eine grosse mentale Stütze.

Geben Sie Noel Tipps?
MvG:
Er ist mit seinem Team unterwegs und wird von diesem betreut. Ich versuche, ihm nur dann zu helfen, wenn er mich braucht. Ich denke, es tut Noel gut, wenn er zwischendurch eine Aussenansicht hört. Ich bin zwar auch Trainer und kenne diese Sicht gut. Man will seinen Schützlingen sein Feedback geben. Am Renntag selber braucht ein Athlet manchmal etwas anderes. In diese Bresche springe ich dann jeweils.

Die Paradedisziplin Ihres Vaters ist der Riesenslalom. Ist er in Ihr Blut übergegangen?
NvG:
Ja, ich fahre am liebsten Riesen. Das ist für mich die schönste und harmonischste Disziplin, die am flüssigsten zu fahren ist. Slalom gefällt mir dann besonders gut, wenn es eine coole Piste hat, der Lauf ansprechend gesteckt ist und wenn es mir gut läuft.

Nervt es manchmal, immer mit dem Vater verglichen zu werden?
NvG:
Nein, es macht mich stolz. Ich weiss, was er geleistet hat. So viel Erfolg zu haben ist auch mein Ziel. Er ist mein Vorbild. Daraus hole ich Energie. Die Skifahrerfamilie ist klein und so sieht man in ganz Europa immer wieder dieselben Leute. Obwohl ich manchmal mit meinem Vater aufgezogen werde, bin ich selbst jemand. Man kennt und anerkennt mich als Noel.

Mussten Sie Noel jemals pushen?
MvG:
Nein, meine Frau Anna und ich standen nie mit der Geisel hinter unseren Kindern. Die Leidenschaft muss von innen kommen. Aber wir versuchen, unsere Kinder bei ihren Träumen zu unterstützen, so gut es geht. Für Noel war es schon immer klar, dass er Ski fahren wollte.
Anna von Grünigen: Wir sagen unseren Kindern immer wieder, dass sie das, was sie machen, für sich selbst und nicht für uns tun sollen. Mike hat die Messlatte hoch gesteckt und wir wissen manchmal fast zu gut, was es braucht, um erfolgreich zu sein.

Seit wann wissen Sie, dass Sie in den Weltcup wollen?
NvG:
Skifahren war für mich immer selbstverständlich. Mit etwa 14 Jahren wurde mir aber bewusst, dass ich wirklich an die Spitze möchte. Im Moment ordne ich diesem Ziel alles unter.

Kann man sich einen Sohn leisten, der im Rennsport aktiv ist?
NvG:
(ganz leise) Als ich begonnen habe, war mir nicht bewusst, wie viel der Rennsport kostet.
MvG: Es ist schon so, dass es nicht der billigste Sport ist. Ich denke Schwimmen wäre günstiger, da braucht es bloss ein paar Badehosen (lacht). Das Material geht schon ins Geld. Wir sind aber in der guten Lage, dass ich in diesem Bereich tätig bin und dadurch gute Zugänge und Konditionen habe. Fischer war immer ein guter Sponsor, auch für die Jungen.

Was schlägt neben dem Material besonders zu Buche?
MvG:
Die Reisen und die Unterkünfte sind natürlich schon teuer. Die kostenintensivsten Jahre sind aber zwischen 15 und 20 Jahren. Sobald jemand den Sprung zu Swiss-Ski geschafft hat, ist der Druck auf die Eltern weniger gross.

Gibt es weitere Finanzierungsmodelle?
MvG:
Wenn sich jemand, der viel Talent hat, den Spitzensport nicht leisten kann, gibt es auch Stiftungen, die diesen unterstützen. Ich präsidiere eine dieser Stiftungen.

Während Ihrer Sportkarriere hatten Sie noch beide Kreuzbänder, nun nur noch eines. Wie kam das?
MvG:
(Lacht) Ja, das stimmt. Etwa vor acht Jahren riss mein Kreuzband in einem Skicamp, welches ich auf dem Gletscher leitete. Es ging ganz blöd, denn es passierte im Stehen. Ich trug ziemlich viele Slalomstangen und weiteres Material, das ich nur zehn Meter transportieren wollte. Da es frisch geschneit hatte, klebte ich an Ort und Stelle fest und verlor ganz langsam das Gleichgewicht. Ich konnte auf die Schnelle kein Material abwerfen und schon hörte ich es knacken.

Wie geht es Ihnen heute?
MvG:
Da nichts ausser das Kreuzband verletzt war, liess ich es nicht operieren. So lange die Muskeln rundherum gut arbeiten, werde ich es so belassen, ich habe keine Einschränkungen, mir geht es gut.

Welcher Sieg war für Sie der wichtigste?
MvG:
Zwei gehören für mich zu den wichtigsten: 1997 ging ich in Sestriere als Favorit an den Start. Mit meiner Siegesfahrt mit Startnummer 1 konnte ich bestätigen, was von mir erwartet wurde. Der Druck war gross und deswegen war dieser Triumph für mich bedeutend. Der zweite Weltmeistertitel war für mich fast noch wichtiger. Im Sommer 2000 wechselte ich auf die Skimarke Fischer und fuhr damit die erste Saison, als in St. Anton die Weltmeisterschaft stattfand. Meine grossen Konkurrenten waren die Österreicher Hermann Maier, Hans Knauss, Stephan Eberharter und Benjamin Raich. Für mich war es besonders speziell in Österreich mit einer österreichischen Skimarke Weltmeister zu werden. Erst recht, weil niemand damit gerechnet hat.

Wie sind Sie mit Niederlagen umgegangen?
MvG:
(Denkt nach, schaut seine Frau Anna an und ächzt.) Zu Beginn meiner Karriere hatte ich oft recht lange, bis ich eine Niederlage überwunden hatte, weil ich nicht wusste, wie damit umzugehen. Es gab auch niemanden, der mir das hätte zeigen können. Ich fokussierte mich darauf, was nicht funktionierte. Anna konnte mir in diesem Prozess helfen, einen neuen Weg zu finden, wie mit Niederlagen umzugehen. Mit der Zeit lernte ich, das anzuschauen, was gut gelaufen war und darauf zu bauen.

Wie ist das mit den Niederlagen bei Ihnen, Noel?
NvG:
Vor ein paar Jahren konnte ich Niederlagen schlecht verdauen. Ich steigerte mich in etwas hinein und fand daraus kaum mehr einen Ausgang. In den letzten Jahren habe ich daran gearbeitet und es geht viel besser. Ich habe so viele Rennen pro Jahr, dass Niederlagen einfach auch dazugehören. Ich lerne jedes Mal daraus und kann es nächstes Mal besser machen. Niederlagen sind eine Chance, mich zu entwickeln.

Waren Sie sich während der Karriere bewusst, welche Massstäbe Sie setzten?
MvG:
Manchmal habe ich mir fast zu wenig Zeit genommen, mich über die Erfolge zu freuen.

Weshalb?
MvG:
Weil ich schon wieder das nächste Ziel, das nächste Rennen vor Augen hatte. Das würde ich heute vielleicht etwas anders machen. Ich habe erst im Nachhinein erkannt, was ich eigentlich in meiner Skikarriere geleistet habe. In diesem Bereich können wir Noel stützen und helfen.

Bestimmt wurden Ihre Kinder überall dauernd erkannt.

MvG: Mir tun meine Kinder fast leid, weil sie nirgends hingehen können, ohne dass sie erkannt und mit mir verglichen werden. Weil sie damit aufgewachsen sind, wissen sie damit umzugehen. Uns wäre es manchmal lieber gewesen, sie wären etwas anonymer gross geworden.

Welche Personen sind für Sie wichtig?
NvG:
Meine Familie ist mir wichtig, ich wohne auch noch zu Hause. Nicht nur wegen des Geldes, das ich spare, sondern auch, weil mir meine Eltern und die Geschwister gut tun.

Inwiefern?
NvG:
Sie holen mich oft auf den Boden der Realität zurück, zeigen mir, dass es auch ein anderes Leben gibt, als den Skirennsport, vor allem mein Bruder Elio ist in diesen Situationen für mich wichtig.

Welche Rolle spielt Ihr Bruder Lian?
NvG:
Bei Lian ist es eher umgekehrt. Weil er sich auf dem gleichen Pfad befindet wie ich, profitiert er von meinen Erfahrungen. Ich bin aber auch oft bei meiner Freundin Raphaela auf dem Stoss. Sie kennt den Skizirkus gut, weil sie selbst Rennfahrerin ist. Deswegen zeigt sie viel Verständnis, zum Beispiel auch dafür, dass ich wenig Zeit habe – sie hat sie auch nicht (lacht). Auch meine Trainer Erich Schmidiger und Jan Sailer gehören zu den wichtigen Leuten.


NOEL VON GRÜNIGEN

Noel von Grünigen ist am 17. April 1995 geboren. Er war acht Jahre alt, als sein Vater vom Spitzensport zurückgetreten ist. Er hat die Matura mit 17 Jahren abgeschlossen.
Obwohl damals Skifahren für ihn sehr wichtig war, er aber noch kein Profi war, hat er sich zum Zimmermann ausbilden lassen. Seit zwei Jahren ist er nun Profisportler. In der laufenden Saison konnte Noel von Grünigen sich stark verbessern. Er hat vor allem an der Konstanz gearbeitet. Während er letztes Jahr noch oft ausgeschieden ist, brachte er dieses Jahr fast alle Läufe herunter. Oftmals platzierte er sich an den Riesenslalomrennen im Europacup in den Top 30. Was im Europacup dieses Jahr gefehlt hat, war eine Top-Platzierung, sagt er selbstkritisch. Obwohl er im C-Kader ist, trainiert er in der Europacup-Trainingsgruppe. Sein Ziel für die nächste Saison ist der Aufstieg ins B-Kader. Die Zeichen dafür stehen im Moment gut.


NOEL VON GRÜNIGEN

Wichtigstes Ziel während Aktivzeit

Im Europacup Fuss zu fassen und vorne mitzumischen, um sich für den Weltcup zu qualifizieren.

Idol
(Lacht) Es ist offensichtlich, denn es ist mein Vater. Obwohl ich während seiner Aktivzeit zu klein war, um das zu realisieren, weiss ich heute, was er geleistet hat. Damals habe ich ihn als Vater angesehen, heute bewundere ich auch seine sportliche Leistung. Ich fahre technisch sehr ähnlich wie er. Als Jugendlicher war ich Fan von Ted Ligety und Bode Miller. Während Ted Ligety ein guter Techniker war, betonte Bode Miller immer wieder, dass ihm die Freude am Sport am Herzen liegt und nicht das Siegen.


MIKE VON GRÜNIGEN

Wichtigstes Ziel während Aktivzeit

Das nächste wichtige Rennen wie Olympiade, Weltmeisterschaft oder auch der Gesamtweltcupsieg.

Idol
Ingemar Stenmark war mein Vorbild, als ich in den Weltcup kam. Vielleicht auch, weil ich einen ähnlichen Fahrstil hatte wie er. Er hat damals schon versucht, die Kurven zu fahren, statt zu rutschen. Seine damalige Frau hatte in Schönried eine Wohnung und er war in den 1980er-Jahren zwischen den Rennen manchmal dort. Ich sah ihn am Rellerli frei fahren, das hat mich inspiriert. Lustigerweise gibt Ted Ligety mich als Idol an und somit schliesst sich der Kreis.


MIKE VON GRÜNIGEN

Mike von Grünigen ist 2003 vom aktiven Rennsport zurückgetreten. Er ist aber noch immer im Skirennzirkus tätig. Er arbeitet für die Skifirma Fischer. Anfangs war er hauptsächlich in der Entwicklung, nun vermehrt im Marketing und in der Verkaufsförderung tätig. Er ist zusätzlich Rennsport-Koordinator für die Skimarke. Deswegen ist er oft an denselben Rennen wie Noel. Zusätzlich führen Anna und er die JO Schönried (Bild), die von rund 60 Kindern besucht wird. Auch für das RLZ arbeitet er und hat weitere Mandate. Er bietet auch personalisierte Skitage an. In den Sommermonaten vertreibt er mehrere Fitnessgeräte, die auf den Skisport ausgerichtet sind.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote