Repräsentative Demokratie als Hängepartie

  29.03.2018 Saanenland

Wahlen sind die demokratische Methode, einen Machtwechsel herbeizuführen – oder die Regierung im Amt zu bestätigen. So einfach die Theorie, so schwierig die Praxis. Immer häufiger bringen Wahlen in repräsentativen Demokratien keine klaren Verhältnisse mehr. So geschehen in Deutschland im September 2017 und in Italien im März 2018: Ein eindeutiger Wählerauftrag an eine Partei oder an ein Parteienbündnis war und ist in beiden Fällen kaum herauszulesen – bloss die missmutige Botschaft des Volkes: Wir sind mit den Regierenden nicht zufrieden.

Zurück bleibt nach solchen Wahlen eine zunehmend parzellierte Polit-Landschaft mit einbrechenden Traditionsparteien und aufstrebenden Protestparteien. Die Regierungsbildung wird harziger, die Stabilität brüchiger. Gleichzeitig treibt die unter Schwindsucht leidenden einstigen Volksparteien die Frage um: Wie werden wir wieder attraktiv, stark und mächtig? In der Opposition natürlich, lautet in vielen Fällen die rasche Antwort. Für die SPD war nach dem Wahldebakel sofort klar: Der Jungbrunnen liegt ganz sicher nicht in Angela Merkels starken Armen. Also bastelten CDU/CSU, die FDP und die Grünen an der Jamaika-Parteifarben-Koalition (schwarz-gelb-grün) herum. Bis die FDP gegen Schluss der zähen Verhandlungen zum nie völlig transparent gemachten Entscheid kam, doch nicht mitzumachen. Vermutlich, weil sie Merkels starke Arme ebenfalls fürchtete.

Nach einem wenig erbaulichen innerparteilichen Schauspiel entschloss sich die SPD dann doch wieder, mit Merkel zu regieren. Ob die Parteimitglieder am Schluss aus staatspolitischer Verantwortung oder aus purer Ermüdung nach einer fast halbjährigen Hängepartie der Regierungsbeteiligung zugestimmt haben: Auf den Dank der Wählerschaft werden sie wohl so oder so verzichten müssen.

Die zähen Regierungsbildungen in Deutschland und nun auch wieder in Italien verweisen auf eine prinzipielle Schwäche der repräsentativen Demokratie: Sie funktioniert nur dann reibungslos, wenn möglichst wenige Parteien im Spiel sind und im Idealfall eine einzige Partei die absolute Mehrheit erreicht. Die unterlegene Partei oder Parteienfamilie kann sich dann in der Oppositionsrolle regenerieren und sich Hoffnungen für die nächsten Wahlen machen. Koalitionsregierungen dagegen – vor allem grosse Koalitionen – sind im parlamentarischen Regierungs-Oppositions-Modell im Grunde systemfremd und nur für Ausnahmefälle gedacht. Da Regierungs-Oppositions-Modelle dazu tendieren, die Wählerschaft in der Mitte abzuholen, werden sich die grossen Parteien immer ähnlicher; es gibt keine klaren Mehrheiten mehr.

Es gibt ein Demokratiemodell, wo nach Wahlen nie Koalitionsgespräche geführt werden müssen, wo es keine monatelangen Hängepartien gibt, wo die Regierung seit 170 Jahren, also seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848, ohne auch nur einen einzigen Tag Unterbruch im Amt ist. Es ist zudem eine Regierung, die nie vollständig ausgewechselt wurde, sondern immer nur durch einzelne Mitglieder ergänzt wird, und in der die vier stärksten politischen Kräfte in einer Mehrparteienregierung eingebunden sind – und wo das Volk die wahre Opposition ist, die den Regierenden auch regelmässig in die Parade fährt. Es ist ein sehr altes System aus dem 19. Jahrhundert, aber es funktioniert – und es wirkt in seiner Mischung aus Stabilität und Flexibilität ungemein modern. Nur: Dieses direktdemokratische Modell schweizerischer Prägung ist nicht so ohne weiteres für den Export geeignet. Es setzt eine lang eingeübte politische Kultur der harten, aber fairen Debatte und schliesslich des Ausgleichs voraus – ein wertvolles Schweizer Kulturgut, zu dem wir Sorge tragen sollten.

JÜRG MÜLLER
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