Der Grosse Rat und das Stimmvolk

  06.04.2018 Saanenland

Ist es legitim, Politik mit Spiel, im Sinne von spielerischem Tun, in Verbindung zu bringen? Denkbar, denn wenn sich über 2000 Kandidatinnen und Kandidaten für 160 Sitze im Grossen Rat des Kantons Bern bemühen, geht es zwangsläufig um Rivalitäten, um Gewinnen und Verlieren. Jede Frau, jeder Mann, alle wollen ihr Bestes geben. Aber 92 % werden ihr Ziel nicht erreichen. Man stelle sich diese Ausfallquote bei einem Skirennen vor!

Gut, wie kommt man denn auf einen dieser begehrten Stühle im Rathaus zu Bern? Mal angenommen, diese 2000 Kandidatinnen und Kandidaten sind Brüder, Schwestern, Cousinen, Cousins – eben eine grosse Familie. Man trifft sich zum grossen Frühlingsfest, das nur alle vier Jahre stattfindet. Auf dem Salzwasser hat ein Organisationskomitee, gebildet aus einem Nationalrat, einem amtierenden Grossrat und den Gemeindebehörden von Saanen, ein gigantisches Zelt und einen ideenreichen Spiel-Parcours aufgestellt. Höhepunkt des Festes und gleichsam das Spiel der Spiele ist der «Sässelitanz». Zuerst das Spiel, dann Wurst, Brot und «Flüssiges».

Auf der feuchten Matte stehen 160 Stühle, in Kreisform angeordnet. Die Kandidatinnen und Kandidaten, mit einem Basecap in den Farben ihrer politischen Heimat über der Nase, gehen, joggen, «hotschen», ganz ihrer Ideologie und ihrem biologischen Alter entsprechend um die aufgestellten Stühle – dicht an dicht und alle in die gleiche Richtung. Weil es im Saanenland wenig bis keine SP gibt, dreht man rechts herum. Auf einem Baukran, hoch über dem Spielfeld, steht ein einheimischer Sport-Promi. Auf seinen lauten Ruf «Jetzt!» versuchen die Damen und Herren «Möchte-gerne-Grossrätin, -Grossrat», auf einem der bereitstehenden Stühle abzusitzen. Gedränge und «es Gjufel» wie am Dessertbuffet – denn nur acht Prozent werden es schaffen! Und die andern 92 Prozent? Sind das nun Verlierer? Nein, überhaupt nicht, sie hatten einfach Pech im Strom der Dichte. Dass sie keinen Stuhl fanden, hat doch bei Personenwahlen nur nachrangig mit Parteiideologie zu tun. Und auch nicht mit den publizierten Wahlversprechen. Aber mit was denn? Übrigens, an diesem mega Politiker-Frühlings-Familienfest waren keine Zuschauenden zugegen. Also konnten die, die unsere Demokratie festigen und weiterentwickeln wollten, auch niemanden um Rat fragen, wie man es «angattigen» sollte, so einen Sitz im Rathaus in Bern zu ergattern.

Entwicklung der Wahlbeteiligung
Landauf, landab – ein bedeutendes, demokratisches Recht wird kaum mehr wahrgenommen! Würde man die Wahlbeteiligung mit der Anzahl Zuschauenden beim Tennis Swiss Open Gstaad gleichsetzten, so könnte Stan Wawrinka jedem Einzelnen die Hand schütteln.

EUGEN DORNBIERER-HAUSWIRTH


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote