«Die Vorstellung, dass man hier oben nicht gebären darf, war für mich ein No-Go»

  15.05.2018 Gesundheitswesen

Erst wurde sie belächelt, dann bekämpft, doch Ursula Michel hat nie aufgegeben und schliesslich gewonnen. Das Geburtshaus Maternité Alpine wurde vor einem guten Jahr eröffnet. Wie hat die Präsidentin des Geburtshauses diesen Kampf erlebt und wie geht es ihr heute?

BLANCA BURRI

Ursula Michel, weshalb haben Sie sich gegen so viel Widerstand durchgesetzt und mitgeholfen, das Geburtshaus zu gründen?
Ich habe drei gesunde Kinder in Zweisimmen gebären dürfen. Danach schloss die Geburtenabteilung dort. Dadurch, dass meine Geburten immer sehr schnell verliefen, konnte ich mir nicht vorstellen, wie man dafür von hier nach Thun oder Frutigen fahren sollte.

Ihre Familienplanung war bereits abgeschlossen, trotzdem haben Sie sich eingesetzt.
Kurz bevor der Älteste auf die Welt kam, schloss das Spital Saanen seine Geburtenabteilung. Für mich war das an und für sich kein Problem, denn ich konnte ja in Zweisimmen gebären. Ich sagte mir: «Es gibt dort eine gute Geburtenabteilung und wenn diese schliessen sollte, ‹so wott ne de›». Als der Fall dann doch eintraf, erwachte die Rebellin in mir. Die Vorstellung, dass man hier oben nicht gebären darf, war für mich ein No-Go, deswegen habe ich alles gegeben, was ich konnte.

Alleine hätten Sie wohl nichts bewegen können …
Wirklich nicht. Aber es gab eine gesamthafte Bewegung in der Region, die sich gesagt hat: «Wir geben uns mit dieser Situation nicht zufrieden.» Erst haben wir uns lange für den Erhalt der Geburtenabteilung eingesetzt. Zwar vergebens, aber diese Vorarbeit hat es rückwirkend gesehen wohl gebraucht, damit dem Kanton bewusst wurde, dass es ein geburtshilfliches Angebot in der Region nötig ist. Das hat den Weg für das Geburtshaus geebnet.

Wer hat in dieser Zeit Ihren Haushalt erledigt?
(Lacht) Ich habe in dieser Zeit jeweils gesagt: «Es Huus han i, aber ghalte isch es nümme». Ja, es war eine chaotische Zeit. Gian, mein Jüngster, war damals halbjährig. Ich habe meine drei Kinder mit der Hilfe meines Mannes irgendwie durch diese Zeit «gschleikt».

Wie haben die Kinder auf diese intensive Zeit reagiert?
Sie haben schon reagiert, mussten etliche Male zurückstehen – aber ich habe bemerkt, dass sie nicht darunter litten. Sie haben sich im Gegenteil von dieser Bewegung mitreissen lassen – ich glaube, sie waren stolz auf mich. Meine Mittlere, Emily, spielt auch heute noch manchmal eine Spitalkämpferinnen-Sitzungen nach und mein Ältester schrieb auf den Geburtshaus-Ordner: «Du schaffst das! Ich wünsche dir viel Glück.»

Welches war die nervenaufreibendste Phase?
Das war rund drei Monate vor der Schliessung der Geburtenabteilung von Zweisimmen. Wir hatten vorher die Unterschriften gegen die Schliessung im Rathaus Bern übergeben. Daraufhin geschah entgegen unseren Hoffnungen nichts, im Gegenteil, der Regierungsrat kam in die Region und verkündete, dass es bei der Schliessung bleibt. Das war ein zermürbender Moment.

Wann ging es wieder aufwärts?
Am Tag der Schliessung der Geburtenabteilung, also am 31. März 2015, hat jemand aus unseren Reihen gesagt, dass es nichts anderes gibt, als uns selbst zu helfen. Und das haben wir unmittelbar danach an die Hand genommen. Natürlich war auch dieser Prozess nervenaufreibend, aber in einem positiven Sinn. Es entstand etwas, statt dass es beerdigt wurde.

Was war in dieser «Geburtsphase» besonders kribbelig?
Das lange Warten, der grosse administrative Aufwand für die Betriebsbewilligung und das Bangen, ob wir auf der Spitalliste aufgenommen würden. Umso grösser war die Freude, als es geklappt hat. In der ganzen Zeit waren wir von vielen positiven Leuten umgeben, das hat uns getragen.

Gab es einen Moment, wo Sie fast aufgegeben hätten?
Das hat es zwischendurch schon gegeben. Aber da wir uns regelmässig getroffen haben, konnten wir uns immer wieder gegenseitig aufbauen. Marianne Haueter, eine Mitkämpferin und heutige Co-Leiterin des Geburtshauses, ist gelernte Psychiatrieschwester und hatte immer wieder die Gabe, unsere Situation als Ganzes zu betrachten. Sie konnte uns auf den Boden holen und uns aufzeigen, was die Zermürbungstaktik des Kantons bezweckte. Wir haben uns aber nicht zermürben lassen, sondern haben weitergekämpft.

Bisher sind 74 Kinder im Geburtshaus Maternité Alpine auf die Welt gekommen. Welche Gefühle machen sich breit?
Es ist eine grosse Genugtuung und Dankbarkeit, die uns umgeben. Sicherlich sind wir auch stolz, dass man nun wieder in der Region gebären kann.

Während der intensiven Phase waren Sie in aller Munde. Wie ist das heute?
Es ist ruhiger geworden. Wenn aber das Inserat der Neugeborenen in der Lokalzeitung erscheint, erhalte ich regelmässige Rückmeldungen dazu. Ich muss manchmal an die Anfangszeit zurückdenken, als wir uns vehement gegen die Schliessung der Geburtenabteilung wehrten. Da gab es eine Zeit, als ich im Dorf etwas komisch angeschaut wurde. Jetzt ist die Wahrnehmung in der Bevölkerung anders, das ist schön. Wahrscheinlich hat man den Eindruck, dass die grosse Arbeit erledigt ist und dass ich nun etwas zurückstehen kann.

Ist das so?
Ja, wirklich. Seit der Betrieb läuft, habe ich mich stark zurückgezogen.

Wie gehen Sie mit dem Risiko um, das Sie als Präsidentin automatisch tragen?
Das habe ich mir zwischendurch auch überlegt. Obwohl die betriebliche Verantwortung bei der Betriebsleitung liegt, kann sie im schlimmsten Fall auf mich zurückfallen. Aber wir haben ein starkes Team, auch in der Verwaltung, und deswegen spüre ich, dass ich diese Verantwortung nicht alleine trage.

Wohin geht die Reise im Geburtshaus?
Die Nutzungszahlen vom ersten Betriebsjahr haben bereits die wichtige Funktion des Geburtshaus als geburtshilflicher Gundversorger in der Region gezeigt. Dies gilt für den ambulanten und stationären Bereich. Die Nachfrage war grösser als erwartet. Es hat auch gezeigt, dass wir Leistungen erbringen, die von den Versichern nicht vollumfänglich gedeckt sind. Um auf längere Sicht wirtschaftlich rentabel zu sein, braucht es zwischen 70 bis 80 Geburten im Jahr. Wir sind optimistisch, dies erreichen zu können. Man darf nicht vergessen, wir sind noch in der Aufbauphase. Damit diese Phase überbrückt werden kann und Leistungen für ungedeckte Kosten finanziert werden können, haben wir einen Förderverein gegründet.

Wohin geht die Reise privat?
Der 1. Januar 2017 ist für mich sehr geschichtsträchtig. Einerseits wurde das Geburtshaus eröffnet, andererseits haben mein Mann und ich den Landwirtschaftsbetrieb mit Voralp und Hochalp sowie Stallbeizli von den Eltern übernommen. Ich bin da schon mit über 100 % ausgelastet, vor allem auch, weil wir momentan ein neues Wohnhaus bauen. So habe ich im vergangenen Jahr gemerkt, dass ich an meine Grenzen stosse. Deshalb habe ich mich entschieden, per nächste Hauptversammlung, die am 26. Mai stattfindet, als Genossenschaftspräsidentin Maternité Alpine zurückzutreten.

Wer wird das Präsidium übernehmen?
Voraussichtlich wird Anne Speiser in meine Fussstapfen treten. Der Vorstand wird sie an der GV zur Wahl vorschlagen. Zusätzlich wünschten wir uns, noch jemandem aus dem Saanenland in den Vorstand wählen zu können. Ich werde trotzdem noch versuchen, im Beirat als «Gotti» das Geburtshaus zu unterstützen.

www.maternitealpine.ch


ZUR PERSON

Ursula Michel-von Gunten ist 38 Jahre alt. Sie ist mit Daniel Michel verheiratet und Mutter von Andri (12), Emily (6) und Gian (4). Sie ist in Sigriswil aufgewachsen, hat das KV und später Bäuerin gelernt. Heute ist sie Mutter, Bäuerin und Gastwirtin. Erst hat sie sich gegen die Schliessung der Geburtenabteilung im Spital Zweisimmen eingesetzt, später massgeblich mitgeholfen, das Geburtshaus Maternité Alpine zu gründen. Nun, da die grosse Arbeit gemacht ist, zieht sie sich weitgehend aus der Genossenschaft Maternité Alpine zurück und konzentriert sich auf den eigenen Landwirtschaftsbetrieb in Gstaad und das Muttersein.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote