Das Spiel in der Praxis

  01.05.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER
Im letzten Beitrag (siehe AvS vom 10. April) habe ich die Bedeutung des Spiels erwähnt und dabei vor allem die theoretische Seite besprochen. Was es bedeutet, Lernstoff durch Spiele zu vermitteln, will ich nun anhand einiger Beispiele aus der Praxis zeigen. In «Tres Soles» haben wir eine Spielwerkstatt geschaffen, in der eine Gruppe von Jugendlichen Tischspiele für sich selbst und für ihre kleineren Kameraden erfindet und bastelt.

Eines der beliebtesten Tischspiele sind die sogenannten Leiterspiele. Wir haben bisher zwei hergestellt, eines auf Karton und ein zweites auf einer Sperrholzplatte. Das erste hat das Verhalten in der Schule zum Thema («Das grosse Spiel der Schule») und das zweite das Verhalten im Sport («Das grosse Spiel des Sports»). Auf dem Weg zum Ziel gibt es ab und zu grüne und rote Felder. Die grünen Felder bedeuten positive und die roten negative Botschaften oder Verhaltensweisen. Wenn jemand mit seiner Figur auf ein solches Feld kommt, muss er eine grüne beziehungswiese ein rote Karte von dem Stapel neben dem Spielfeld ziehen und laut vorlesen. Je nach Botschaft auf der Karte darf er noch einmal würfeln, muss er eine Runde aussetzen oder er darf ein paar Felder vor- oder muss ein paar Felder zurückgehen. Die grünen Karten haben im Fall des Schulspiels etwa folgende Botschaften: «Ich schlage in Büchern nach, weil ich mich genau informieren will» oder «Nach der Schule komme ich schnell nach Hause, weil ich Zeit für meine Hausaufgaben haben will»; im Sportspiel: «Es ist wichtig, dass wir uns organisieren, damit wir wissen, wer auf welchem Posten spielt» oder auch «Im Fussball spielen wir fair, um niemanden zu verletzen». Die roten Karten beschreiben negative Verhaltensweisen und ihre Folgen, im Schulspiel zum Beispiel: «Wenn ich mich egoistisch verhalte, zum Beispiel bei meinen Sachen, wird mir niemand helfen, wenn ich Hilfe brauche» oder «Wenn ich die Aufgaben von Freunden abschreibe, lerne ich nichts»; im Sportspiel heisst es: «Wenn wir rauchen und Alkohol trinken, sind wir körperlich weniger leistungsfähig» oder «Wenn wir nicht mit den Gedanken bei der Sache sind, geht alles schief». Zwischen den «normalen» Feldern gibt es ausserdem Felder mit Zeichnungen, die ebenfalls positive oder negative Verhaltensweisen aufzeigen. Kommt man im Sportspiel auf diese Felder, darf man entweder hinaufklettern oder muss hinunterrutschen. So ist im Sportspiel unter anderem ein Sportler zu sehen, der unter der Dusche steht und deshalb aufsteigen darf, denn Hygiene ist wichtig (natürlich nicht nur im Sport), wohingegen das Feld mit der Zeichnung des Mädchens, das vom Sprungbrett rücksichtslos in eine Gruppe von spielenden Kindern hineinspringt, bedeutet, dass man zurückgehen muss. Beim Sportspiel gibt es sogar auch noch gelbe Felder, zu denen es passend gelbe Karten gibt. Auf diesen Karten stehen Fragen, die der Spieler beantworten muss, um weiterziehen zu können: «Warum brauchen wir Schiedsrichter?» oder «Können Behinderte auch Sport machen?»

Ein anderes beliebtes Spiel in Bolivien ist das Bingo oder das Lotto. In unserem Fall ist es ein «Buchstabenlotto», das ebenfalls wie die Leiterspiele ein bestimmtes Thema behandelt. Bisher haben wir zwei Spiele hergestellt, eines mit dem Thema «Ehrlichkeit» und das zweite behandelt das Thema «Hygiene». Jeder Spieler erhält eine Karte, auf der ein Satz steht. Es wird ein Buchstabe aufgerufen, und wenn er im Satz eines oder mehrerer Spieler vorkommt, darf dieser Buchstabe mit einem getrockneten Maiskorn oder einem Steinchen auf der Karte abgelegt werden. Ziel ist es, alle Buchstaben auf der Karte mit einem Steinchen belegt zu haben. Das Knifflige bei der Herstellung dieses Buchstabenlottos für die Jugendlichen ist, Sätze zu bilden, die alle dieselbe Anzahl von Buchstaben haben, jedoch darf kein Buchstabe mehr als fünf Mal vorkommen.

Ausser diesen klassischen Tischspielen fertigen wir auch Holzpuzzles. Bisher haben wir eine Reihe zum Thema «Drogen» und eine zweite mit dem Thema «Gewalt» hergestellt. In Zweiergruppen mussten die Jugendlichen eine Zeichnung und einen passenden Spruch dazu entwerfen, die dann auf die Puzzles gemalt wurden. Ein besonders gut gelungenes Puzzle zeigt ein hartes Gesicht mit einem eiskalten Gesichtsausdruck, das aus einem zerbrochenen Herzen wächst. Der Text dazu lautet: «Die Gewalt verhärtet dein Herz»; ein anderes Puzzle zeigt einen Hammer, der eine Glasscheibe zerschlägt: «Gewalt zerstört das Vertrauen zwischen Freunden.»

Alle diese Spiele lassen sich auf jedes beliebige Thema anwenden. Wichtig ist, dass die Jugendlichen in Gruppenarbeiten die Themen selbst auswählen, die Texte selbst entwerfen und die Spiele selbst gestalten und verzieren. Wie man sich vorstellen kann, wirken das Herstellen und natürlich auch das spätere Spielen äusserst bewusstseinsfördernd. Solche Spiele sollten allerdings nicht zur freien Verfügung ausgegeben werden, damit sie nicht zur Routine werden. Besonders beliebt sind in «Tres Soles» die Spielnachmittage, die wir mit diesen Spielen ab und zu veranstalten. Wir stellen in unserem Hof eine Reihe von Tischen auf, sodass an jedem Tisch ein Spiel gespielt werden kann. Die Kinder und Jugendlichen können frei von einem zum anderen Tisch wechseln, ganz wie es ihnen beliebt.

An jedem Tisch gibt es einen Schiedsrichter, der die Regeln überwacht und darauf achtet, dass die Botschaften laut und korrekt vorgelesen werden. Für die Gewinner an den Tischen gibt es zwar kleine Preise wie Süssigkeiten oder Salznüsse, doch am Ende des Spielnachmittags wird letztendlich jeder, der mitgemacht hat, mit Naschereien belohnt. Die Spiele sollen keineswegs auf Wettbewerb ausgerichtet sein, sondern das Mitmachen und die Solidarität fördern.

Jedes dieser Spiele ist eine Einzelanfertigung und somit ein kleines Kunstwerk, das geschätzt und erhalten bleiben soll. Darüber zu wachen, ist ebenfalls eine der Aufgaben der Schiedsrichter an den Spieltischen. Es ist uns ein Anliegen, dass der Spass am Spielen und Lernen möglichst vielen weiteren Generationen von Kindern und Jugendlichen erhalten bleibt.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, der kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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