Armut im Saanenland: die Kehrseite von Luxus und Reichtum

  26.06.2018 Saanenland

Das Saanenland wird oftmals von der luxuriösen Seite dargestellt. Doch hinter der Fassade zeigt sich ein anderes Bild: Auch im Saanenland sind Personen von Armut betroffen. Sie müssen hierzulande zwar nicht um das nackte Überleben kämpfen, können sich aber gesellschaftlich nicht voll integrieren, weil sie dafür zu wenig Geld haben.

GUIDO REICHENBACH UND BLANCA BURRI
Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weltweit immer mehr. Die acht reichsten Männer der Welt besassen 2016 gleich viel wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung, was einem Vermögen von 426 Milliarden Dollar entspricht, wie die Entwicklungsorganisation Oxfam schreibt. Eine krasse Zahl, vor allem, wenn man bedenkt, dass laut der Welthungerhilfe fast 800 Millionen Menschen rund um den Globus an Hunger leiden. Die Hungerschwelle liegt bei 1800 Kalorien am Tag, wie die Welthungerhilfe auf ihrer Homepage schreibt.

Der Begriff «Armut» ist mit Vorsicht zu geniessen
In der Schweiz geht es uns grundsätzlich gut. Wir müssen keinen Hunger leiden und haben in der Regel ein Dach über dem Kopf. Wer arbeitslos oder arbeitsunfähig ist, wird von unserem Sozialsystem aufgefangen. Der Begriff «Armut» ist deshalb in der Schweiz mit Vorsicht zu geniessen, denn sie äussert sich nicht in gängigen Vorstellungen wie Hunger und Obdachlosigkeit, sondern in sozialer Ausgrenzung.

Armut heisst soziale Ausgrenzung
Christoph Leu ist Leiter der Regionalstelle Oberland von der Caritas Bern. Er ist im Thema Armut von Flüchtlingen besonders gut bewandert, kennt aber auch die Situation von weiteren Schichten, welche von Armut gefährdet sind. Im Interview gibt er einen lebendigen Einblick darüber, was es heisst, arm zu sein.

Christoph Leu, das Saanenland hat den Ruf einer Luxusgegend. Hier gibt es bestimmt keine Armut.
Das könnte man annehmen. Doch dem ist leider nicht so. Selbstverständlich gibt es Armut auch in dieser Region. Sie ist laut Statistik des Kantons Bern etwas weniger verbreitet als beispielsweise in Zentren oder rein agrarischen Gemeinden. Aber es gibt arme Leute im Saanenland. Doch man muss schon gut hinschauen, um Armut zu erkennen, sie ist oft verborgen.

Diese Leute haben ein Dach über dem Kopf, sie haben etwas zu essen und anzuziehen. Ist das nicht genug?
Wer in der Schweiz arm ist, hat eine Wohnung, Kleider und genügend zu essen – das ist in der Regel so. Trotzdem leben armutsbetroffene Menschen ständig mit Existenzängsten oder sind auf fremde Unterstützung angewiesen.

Was bedeutet denn Armut im Saanenland konkret?
Es bedeutet, zu wenig zu verdienen, um den eigenen Lebensunterhalt zu bewältigen. Es bedeutet auch, die Krankenkassenprämien nicht bezahlen oder sich keine angemessene Wohnung leisten zu können. Arm sein heisst auch, den nötigen Zahnarztbesuch aufzuschieben, weil das Geld fehlt. Schon gar kein Geld bleibt für die Pflege sozialer Kontakte. Die Folge ist der schleichende Ausschluss aus der Gesellschaft.

Sie reden von sozialer Ausgrenzung. Was ist damit gemeint?
Oft ist arm sein mit dem Gefühl verbunden, wertlos zu sein. Aus Scham zieht man sich zurück. Andererseits kann man es sich finanziell schlicht nicht mehr oder nur minimal leisten, am gesellschaftlichen Leben – Turnverein, Turnfest, Konzert etc. – teilzuhaben. Dies erzeugt Isolation. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Einer unserer Klienten, ein anerkannter Flüchtling, wohnt in Saanen. Er hat seine Familie in seinem Heimatland zurücklassen müssen. Die deutsche Sprache fällt ihm noch schwer. Mit einem Budget von etwa 1800 Franken muss er seinen ganzen Lebensunterhalt – Grundbedarf, Wohnkosten und Krankenkasse – finanzieren. Entsprechend bescheiden lebt er und hat kaum soziale Kontakte.

Betrifft es also besonders Flüchtlinge?
Wir von der Regionalstelle Oberland der Caritas Bern sind zuständig für die soziale und berufliche Integration anerkannter Flüchtlinge im Kanton Bern. Doch es gibt natürlich noch andere Personengruppen, die von Armut betroffen sind. Gemäss den aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik sind in der Schweiz 1,2 Millionen Menschen armutsbetroffen oder armutsgefährdet. Ein Viertel davon sind Kinder und Jugendliche. Darunter sind ebenfalls überdurchschnittlich viele Alleinerziehende, Grossfamilien mit drei und mehr Kindern und Menschen mit geringer Ausbildung, die nach einem Stellenverlust keine neue Arbeit finden.

Was «leisten» sich arme Leute?
Die Frage ist eher, was sie sich nicht leisten können. Laut der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, welche Richtlinien für die Berechnung der Sozialhilfe erarbeitet hat, hat eine Person nach Abzug der Wohn- und der Krankenkassenkosten pro Monat knapp 1000 Franken für Essen, Kleidung, Kommunikation, Energieverbrauch, laufende Haushaltsführung, Gesundheitspflege, Verkehrsauslagen, Unterhaltung und Bildung, Körperpflege sowie Vereinsbeiträge und Hobbies zur Verfügung.

Wofür reicht das Geld nicht?
Das Geld fehlt oft für unerwartete Gesundheitskosten wie den Zahnarztbesuch. Man schaut, dass man irgendwie über die Runden kommt. Vom Sparen, geschweige denn vom Sparen für das Alter, können arme Menschen nicht einmal träumen.

Was hat das für Konsequenzen?
Armutsbetroffene Leute haben oft mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Hierzu gehören körperliche, aber auch psychische Beschwerden. Das Leben am Existenzminimum, der ständige Kampf für einen angemessenen Lebensunterhalt, ist sehr belastend. Da geht dann oftmals auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren.

Man hört immer wieder von Working Poor. Kommt das auch im Saanenland vor?
Es gibt in der Schweiz etwa 140 000 Männer und Frauen, die trotz Erwerbsarbeit arm sind – sogenannte Working Poor. Die gibt es auch im Saanenland. Da ist beispielsweise eine fünfköpfige Familie: Der Vater arbeitet zu 100 % als ungelernter Handwerker zu einem Lohn von netto 5200 Franken (inklusive Kinderzulagen). Die Steuern oder die Krankenkassenreduktion sind nicht berücksichtigt. Die Mutter ist zu 100 % für Kinder und Haushalt engagiert. Die Wohnkosten belaufen sich auf 1800 Franken pro Monat, die Krankenkasse kostet 1200 Franken. Zudem berechnen die SKOS-Richtlinien für eine fünfköpfige Familie einen Grundbedarf von knapp 2400 Franken. Die totalen Kosten pro Monat belaufen sich also auf 5400 Franken. Das monatliche Einkommen von 5200 Franken liegt somit unter dem sozialen Existenzminimum. Das heisst, die Familie hat ein Recht auf Sozialhilfe.

Was kann zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter tun, damit sie nicht in die Armutsfalle gerät?
Eines der grössten Risiken, arm zu werden, haben Alleinerziehende. Neben der zeitintensiven Kinderbetreuung ist es kaum möglich, in einem gut bezahlten Job zu arbeiten, weil die meisten gut bezahlten Jobs mit einer hohen Arbeitsbelastung einhergehen. Die externen Kinderbetreuungsangebote sind einerseits oftmals zu wenig ausgebaut und anderseits zu teuer. Auch allfällige Alimente reichen oft nicht sehr weit. In solchen Situationen kann vor allem ein tragfähiges soziales Netz helfen. Aber hier steht eigentlich in erster Linie der Sozialstaat in der Pflicht.

Wie kommen Betroffene wieder aus der Armut heraus?
Oft geht das einher mit einer Erwerbsarbeit. Leider sind das dann tendenziell schlechtbezahlte Temporärjobs. Aus der Armut kommt man nachhaltig nur mit einer Erwerbsarbeit heraus, die gut bezahlt ist und es erlaubt, auch am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Was gibt es für Präventionsmassnahmen?
Der Staat hat in die Bildung zu investieren und zwar bereits bei den ganz Kleinen. Eine frühkindliche Förderung beugt späterer Armut vor. Wichtig wäre ausserdem ein Ausbau der familienexternen Kinderbetreuung. Einen wirksamen Beitrag können auch gezielte finanzielle Unterstützungsmassnahmen sein, zum Beispiel Familienergänzungsleistungen. Auch gezielte Förderund Unterstützungsmassnahmen an den Übergängen von einer Lebensphase in die nächste, zum Beispiel von der obligatorischen Schule ins Berufsleben, sind sehr wichtig und helfen, späterer Armut vorzubeugen. Dann ist natürlich auch die Wirtschaft gefragt respektive die Bereitschaft von Firmen, Personen mit erschwerten Voraussetzungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Caritas Bern arbeitet aktuell im Oberland an einem innovativen Pilotprojekt, welches die Arbeitsintegration von Flüchtlingen und Asylbewerbern zum Ziel hat. Gerade die Gemeinden leisten sehr viel im Bereich der Armutsbekämpfung.

Sind auch Flüchtlinge im Saanenland von Armut betroffen?
Ja, klar. Mit Hilfe der engagierten lokalen Behörden und zusammen mit den Betroffenen legen wir von der Caritas Bern für diese individuelle Integrationsmassnahmen fest. Hierzu gehören Massnahmen der sozialen Integration, aber natürlich auch Bestrebungen, diese Leute ins Erwerbsleben zu bringen.

Was ist bei den Flüchtlingen anders als bei Schweizer Bürgern?
Es gibt Flüchtlinge, die in ihrem Heimatland wenig Bildung genossen haben und kaum lesen und schreiben können. Solche Flüchtlinge haben einen sehr langen und intensiven Integrationsprozess vor sich. Hier gilt es zuerst einmal die Grundlagen zu schaffen, damit sie später überhaupt Aussicht auf einen Job haben.

Was passiert mit armen Ausländern, werden sie ausgewiesen?
Gemäss unserer Verfassung haben alle Menschen im Land das Recht auf Hilfe, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Anerkannte Flüchtlinge haben Anspruch auf Sozialhilfe, ebenso Asylbewerber, allerdings liegen hier die Ansätze tiefer.

Die Caritas hat ein Mandat des Kantons für die Integration von Flüchtlingen und engagiert sich tagtäglich, um dies zu erreichen.Sie arbeitet eng mit der Bevölkerung und mit den lokalen Behörden zusammen.


FIKTIVER FALL «ARM IM SAANENLAND»

Beispiel eines jungen Erwachsenen: Abschluss Realschule, Beginn Zimmermannslehre in Saanen. Abbruch der Lehre, weil er den Sinn darin nicht sieht respektive eine Krise hat auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Trotz der Unterstützung des Betriebs gelingt es ihm nicht, noch einmal in der Lehre Fuss zu fassen. Er geht auf die Suche nach einer anderen geeigneten Lehre, die er aber in den nächsten Jahren nicht findet. Zwischendurch schlägt er sich immer wieder mit Temporärarbeiten durch. Dann verlässt er das Elternhaus und will alleine leben. Finanziell kommt er nicht mehr über die Runden. Über das RAV gelangt er in das Motivationssemester «move». Das Motivationssemester SEMO Standard ist ein duales Brückenangebot für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 25 Jahren und ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II mit dem Ziel, beruflichen Anschluss zu finden. Der junge Mann kann so ein paar Schnupperwochen in verschiedenen Betrieben und auch zwei Praktika im Metallund Logistikbereich absolvieren. Leider gelingt es ihm nicht, eine Lehrstelle zu finden. Das drückt auch auf seine Motivation und sein Selbstvertrauen. Er wird ausgesteuert und wird zum Sozialfall. Dank intensivem Coaching durch eine Fachperson erhält er hier mit 26 Jahren die Möglichkeit, in einem Logistikunternehmen im Oberland eine Vorlehre zu machen. Er will diese Chance packen.

Sein Weg aus der Armut ist aber steinig. Um von der Sozialhilfe wegzukommen, muss er einen Abschluss machen. Erst dann hätte er ein Einkommen, das ihm finanzielle Unabhängigkeit garantieren würde.


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