Dank Integration auf eigenen Beinen stehen

  22.06.2018 Interview, Gesellschaft, Saanen, Schule

Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden entweder in der Sonderschule unterrichtet oder aber in der Regelklasse mit integrativer Sonderschulung. Der sechsjährige Bruno besucht den Kindergarten in Saanen mit Unterstützung einer Heilpädagogin. Was dies für ihn und seine Familie bedeutet und wie man im Alltag mit einer Diagnose umgeht, erzählen die Eltern von Bruno im Interview.

MELANIE GERBER

Rita und Guido van Meel, Ihr Sohn Bruno wird im Regelkindergarten in Saanen integriert beschult. Wie erleben Sie die schulische Integration Ihres Kindes?
Rita van Meel:
Integration beginnt bei uns bereits mit den Nachbarn. Sie begegnen uns mit offenen Armen. Wir haben viel Glück, dass man uns unterstützt. Vor zwei oder drei Jahren sind Menschen auf uns zugekommen und haben uns Hilfe angeboten. Wenn man den Menschen offen begegnet, dann wissen sie auch, wie sie damit umgehen sollen und das macht es für alle einfacher. Sonst wissen sie doch nicht, ob sie einem gratulieren oder einem sagen sollen, wie leid es ihnen tut.
Guido van Meel: Das braucht auch Mut, so hinauszugehen. Es gibt natürlich auch Menschen, denen es wohler ist, zu Hause zu bleiben, unter sich, wo man alles im Griff hat und man sie nicht so sieht. Sobald man hinausgeht, wird man Situationen ausgesetzt, die auch schwierig sein können. Es wird geschaut, geredet. Wenn wir mit Bruno unterwegs sind, da schauen die Menschen natürlich, das muss nicht einmal negativ sein. Gerade, dass Bruno in der Schule integriert ist, hilft. Die anderen Kinder bringen so viele positive Feedbacks von Bruno nach Hause und diese hören wir dann wieder von deren Eltern. So weiss man von uns, kennt Bruno und hat Freude am Kontakt mit ihm. Bruno war vorher schon in der Spielgruppe und in der Rhythmik, wir gehen mit ihm einkaufen und die Menschen, mit denen wir Kontakt haben, sehen, was er für ein Sonnenschein ist.
Rita van Meel: Man kennt uns dank der schulischen Integration. Die anderen Kindergartenkinder sagen ihren Eltern: Schau, das ist die Mama von Bruno.

Wie geht man emotional mit einer Diagnose wie der von Bruno um?
Rita van Meel:
Wir hatten nach der Geburt die Wahl: Entweder wir sehen es positiv und sind glücklich oder wir rutschen ab in eine Depression. Das Leben verändert sich, sobald man ein Kind mit besonderen Bedürfnissen hat. Es geht darum, sich zu entscheiden, wie man damit umgeht. Am Anfang sind mir die schockierten Blicke sehr nah gegangen.
Guido van Meel: Wir haben sofort nach der Geburt gewusst, dass unser Sohn anders ist. Man hat es ihm angesehen. Ein Krankenpfleger hat mich nach der Geburt gefragt, ob mir bewusst ist, was auf uns zukommt. Ich konnte früher als Begleiter bei der Projektwoche einer heilpädagogischen Schule Erfahrungen sammeln und habe ihm geantwortet, dass wir eine glückliche Familie sein werden.

Wie geht Ihr Umfeld damit um?
Rita van Meel:
Gerade am Anfang habe ich sehr viele Informationen von Freunden erhalten, Mails, Bücher, mach dieses, probier jenes. Dabei wissen viele auch einfach nicht, wie damit umgehen. Man sieht wenige solche Kinder auf der Strasse. Unseren Freunden haben wir gesagt, dass wir im Lotto gewonnen haben. Stellt euch vor, ein Kind unter Tausend kommt mit dem Down-Syndrom zur Welt und wir haben so eines bekommen. Sehr schön war die Reaktion meines Vaters. Es hat mir ein bisschen Angst gemacht, mit ihm darüber zu sprechen. Er kommt aus einer anderen Generation und einem anderen Umfeld. Mein Vater hat aber gesagt: «Wow, ehrlich? So etwas haben wir noch nicht in unserer Familie!»
Guido van Meel: Es war zu einer Zeit, als in Brasilien gerade ein grosser Fussballstar eine Tochter mit Down-Syndrom hatte und damit an die Öffentlichkeit ging. Dadurch war das Verständnis in der Gesellschaft sehr gross. Das ist genau das, wozu wir uns auch entschieden haben. Wir möchten nichts verstecken, sondern zeigen, dass man keine Angst zu haben braucht.

Wie ist es zum integrativen Setting von Bruno gekommen?
Rita van Meel:
Jana Kunz, seine Kindergartenlehrperson, ist auf uns zugekommen und hat uns gefragt, ob sie versuchen könne, ihn in ihre Kindergartenklasse zu integrieren. Ich habe sie erstaunt gefragt, ob sie sicher sei. Sie meinte, es wäre sehr schön für ihn und für die anderen Kinder in der Klasse. Ich finde, wir haben ein grosses Glück hier zu leben, in einer Situation, in der ein Kind mit Trisomie 21 in einer Kindergartenklasse unter anderen Kindern sein kann und zusätzlich Unterstützung von einer Heilpädagogin bekommt.

Inwiefern läuft der Kindergartenbesuch für Bruno anders ab?
Rita van Meel:
Bruno kann nicht alleine zum Schulbus gehen, wir bringen ihn hin. Im Kindergarten hat er die schulische Heilpädagogin und weitere Therapien wie Logopädie.
Guido van Meel: Die Nachbarskinder können alleine zum Schulbus gehen. So etwas ist ja auch faszinierend, dass die Kinder in der Schweiz den Schulweg alleine meistern. Vom sozialen Standpunkt her ist das integrative Setting sehr gut für seine Entwicklung. Am Anfang war er noch so sehr damit beschäftigt, die sozialen Interaktionen zu beobachten, dass er sich kaum auf die schulische Entwicklung konzentrieren konnte. Nach einem Jahr kann er im Schulalltag gut mitmachen. Die Heilpädagogin ist vier Lektionen pro Woche in der Klasse und macht mit ihm individuelle Aufgaben, um dort anzuhaken, wo noch gezielt Förderung nötig ist, wie zum Beispiel die Feinmotorik.

Welchen Mehraufwand haben Sie als Eltern?
Rita van Meel:
Wir haben mehr Termine, nur schon all die runden Tische in der Schule. Aber Bruno ist zum Glück sehr gesund, deshalb haben wir nicht so viele Arzttermine wie andere Eltern von Kindern mit Down-Syndrom.
Guido van Meel: Es sind wirklich viele Termine. Früher haben wir immer einen Babysitter organisiert und sind beide hingegangen, inzwischen gehe meistens nur noch ich hin.
Rita van Meel: Und dann ist da noch die IV. Ich wusste nicht einmal, was das ist, bis mich eine Kundin darauf hingewiesen hat.
Guido van Meel: Das ist ein grosser administrativer Aufwand. Es gibt ein Formular für jede einzelne Therapie. Manchmal müssen wir für einen Arztbesuch nach Bern gehen, um danach zu erfahren, dass gewisse Therapien doch nicht übernommen werden. Es gibt so viele Unterstützungen und so viele Möglichkeiten, wie Familien mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen geholfen wird, aber logistisch ist es sehr kompliziert und aufwendig in der Administration.

Was bedeutet es für Ihr Familienleben, dass Sie ein Kind mit besonderen Bedürfnissen haben?
Rita van Meel:
Es braucht sehr viel Energie. Ich kann ihn auswärts nicht einfach spielen lassen, sondern muss immer ein Auge auf ihn haben. Ausserdem müssen wir einige Punkte beachten. Zum Beispiel bereiten wir Bruno vor Reisen gut vor, beginnen mehrere Tage davor, ihm zu sagen was passieren wird. Und jeder Spaziergang ist eine Art Therapie. Durch das Down-Syndrom sind seine Muskeln viel weniger ausgebildet und müssen trainiert werden. Also gehe ich mit Bruno den Weg hoch und wieder runter, sodass seine Beine Muskeln aufbauen können.
Guido van Meel: Alles entwickelt sich langsamer bei Bruno: Muskeln, Gehörgang, einfach alles. Das muss man berücksichtigen. Aber andere Kinder haben auch ihre Probleme, Allergien oder Schnupfen und die Eltern kümmern sich darum. So machen wir das auch. Im Allgemeinen ist Bruno recht clever, er braucht einfach mehr Zeit. Wenn wir ihn am Morgen für den Kindergarten bereitmachen und zum Schulbus bringen, braucht das schon sehr viel mehr, als wenn er wie ein sechsjähriges Kind entwickelt wäre. In seiner Selbständigkeit ist er vielleicht so auf dem Stand eines Drei- oder Vierjährigen.

Wie sehen Sie die Zukunft von Bruno?
Rita van Meel:
Mein älterer Sohn wollte nach der Geburt von Bruno alles über das Down-Syndrom wissen. Durch ihn weiss ich, dass es Menschen mit Trisomie 21 gibt, die Auto fahren können und solche die zur Universität gehen.
Guido van Meel: Man kann so viel Negatives lesen, gerade was die Gesundheit von Menschen mit Down-Syndrom betrifft, aber wir fokussieren auf die positiven Sachen.
Rita van Meel: Für Bruno wäre es gut, am Meer zu leben. Die Luft ist gut für seine Atemgänge. Wie die meisten Kinder mit Trisomie 21 hat er Probleme mit den Atem- und Gehörgängen und wenn wir am Meer sind, können wir die Medikamente dafür weglassen.
Guido van Meel: Wir sind bereit, den Wohnort für Bruno zu wechseln. Es muss einfach eine gute Lösung sein. Wir möchten, dass er gute Möglichkeiten hat, sich zur Selbständigkeit zu entwickeln. Wir sehen, dass er seinen Charakter entwickelt und auch selber unabhängig sein möchte. Und genau das wünschen wir ihm. Wir nehmen es aber Schritt für Schritt und denken noch nicht an jedes Detail, sondern geben ihm die beste Unterstützung, die wir können. Auch schulisch wissen wir nicht, wie es weitergeht. Solange es klappt, möchten wir ihn im integrativen Setting lassen, aber es sind immer noch beide Wege offen, auch der über die Sonderschule. Unser Hauptziel ist es, dass er nach der Schulzeit auf eigenen Beinen stehen kann.

1. Teil erschienen am 15. Juni, 2. Teil erschienen am 19. Juni.


BRUNO

Der sechsjährige Bruno ist mit Trisomie 21 zur Welt gekommen und lebt mit seiner Familie im Chalberhöhni. Den Kindergarten besucht er in Saanen, wo er in einer integrativen Sonderschulsetting Unterstützung von einer schulischen Heilpädagogin bekommt. Den Schulweg legt er wie die anderen Kinder mit dem Schulbus zurück. Bruno wächst in einer binationalen Familie mit Schweizerdeutsch und Portugiesisch als Muttersprachen auf.


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