Die Bremsen

  13.07.2018 Leserbeitrag

Es ist eigentlich erstaunlich: Man fährt mit dem Velo, um schneller von einem Ort an den andern zu kommen als zu Fuss, aber etwas vom Wichtigsten am Velo sind gute Bremsen. Denn es ist letztlich halt doch lebenswichtiger, dass man jederzeit anhalten kann, als die Möglichkeit, so schnell wie möglich unterwegs zu sein. Die Bremsen allein machen aber das Velofahren noch nicht sicher. Denn das richtige Bremsen muss zuerst gelernt und geübt werden. Statistisch gesehen passieren nämlich beim Bremsen mehr schlimme Unfälle als beim Beschleunigen. Wenn bei hohem Tempo die Bremsen zum Beispiel kräftig ruckzuck gezogen werden, kann entweder das Hinterrad unkontrolliert ausbrechen oder das Vorderrad wegrutschen. Aber auch der Körpereinsatz und die Verlagerung des Schwergewichts spielen bei der richtigen Bremstechnik eine wichtige Rolle. Und zur richtigen Bremstechnik gehört schliesslich auch, dass die Bremsen immer in einem guten Zustand sind.

Die Wichtigkeit der Bremsen am Velo wird sogar im Art. 214.2 im Schweizerischen Strassenverkehrsgesetz geregelt: Fahrräder müssen mit zwei kräftigen Bremsen versehen sein, von denen die eine auf das Vorder- und die andere auf das Hinterrad wirkt. Ob im Stadtverkehr, über Land oder auf einer Pässefahrt – Velofahren macht nur dann richtig Spass, wenn man sich auf die Bremsen verlassen und jederzeit das Tempo verringern oder anhalten kann. Wer zum Beispiel zuoberst auf einem Pass ankommt und erst auf der Passhöhe merkt, dass die Bremsen defekt sind, steigt am besten vom Velo und geht zu Fuss den Berg runter, um nicht schon in der ersten Haarnadelkurve den Boden unsanft zu berühren.

Das Leben ist zu kurz, um zu bremsen! Gib Gas und geniesse es in vollen Zügen, wurde in den 68er-Jahren auf eine Hauswand gesprayt. Die Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen wird in diesem Spruch ausgebremst. Mit Geboten und Gesetzen wurden die Begehrlichkeit, Unersättlichkeit und Profitsucht der Menschen aber schon in sehr frühen Zeiten gebremst und reguliert. Denn das freiwillige Verzichten wird den Menschen bei der Geburt nicht einfach in die Wiege gelegt. Zu den uralten gesellschaftlichen Bremsen zählen zum Beispiel auch die zehn Gebote. Heute gibt es unzählige weitere Gesetzessammlungen. Doch auf der Strasse des geringsten Widerstandes versagen auch die stärksten Bremsen, schreibt Stanislaw Jerzy Lec. Und die Wahrheit dieses Spruchs wird immer dann bestätigt, wenn in den Medien berichtet wird, dass sich schon wieder jemand, der es gar nicht nötig gehabt hätte, unrechtmässig bereichert oder die Unwahrheit gesagt hat. Irgendwo heisst es darum: Wenn die Dummheit dieser Menschen Velo fahren könnte, müssten sie sogar den Berg hoch bremsen. Aber eben: Fehlt die innere Grösse, fehlt auch die Kraft, den Versuchungen zu widerstehen. Der Dichter Bernard Shaw hat die «Bremsschwierigkeiten» der Menschen folgendermassen beschrieben: Ich kann allem widerstehen, nur nicht den Versuchungen.

Die Schwierigkeit, im richtigen Augenblick die Bremsen anzuziehen, ist jedoch nicht bloss ein Problem einzelner Menschen, sondern es ist auch ein gesellschaftliches Versagen. Die meisten Schweizer und Schweizerinnen verbrauchen zum Beispiel viel mehr Ressourcen, als für das Klima gut ist. Als Wohlstandsmenschen leben wir zu oft auf zu grossem Fuss und vor allem auf Kosten der Solidarität mit denen, die zu wenig oder nichts haben. Wenn alle Leute der Welt so leben würden wie wir, bräuchten wir zirka 3,5 Erdkugeln. Mit unseren Erwartungen an den Wohlstand und an die jährlichen Umsatzsteigerungen befinden wir uns ganz sicher auf der Überholspur der Schöpfung. Der deutsche Satiriker und Humorist Loriot sieht daher die Zukunft unserer Erde nicht sehr rosig, wenn er schreibt: Da man weiss, wie ungern wir Menschen etwas ändern, wird diese Gesellschaft wohl kaum vor dem Abgrund bremsen wollen. Und Karl Talnop ergänzt und fragt: Ohne jeden Zweifel, die Zeit läuft uns davon. Kommt der Mensch eher zur Vernunft, als er zur Vernunft gebracht wird? Und wenn ja, bleibt uns dann noch Zeit zum Bremsen?

Aber zurück zum Velo. Den allerschönsten Adrenalinschub erlebt man auf dem Velo halt doch dann, wenn es so richtig rassig Kurve um Kurve den Berg runter geht und man weiss, dass man im Notfall zwei gute Bremsen hat. Als Laie oder Wochenendfahrer sollte man jedoch zwei Dinge bedenken, wenn man in den Genuss solcher Adrenalinschübe kommen möchte: Beim Aufstieg die Kräfte einteilen und so schonend in die Pedale treten, damit man nicht total ausgepumpt oben ankommt, und bei der Abfahrt die Bremsen benützen, bevor die Angst einen in die Glieder fahren kann.

ROBERT SCHNEITER


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