Die Gangschaltung

  27.07.2018 Leserbeitrag

Ob Nabenschaltung oder Kettenschaltung – die wichtigste Aufgabe der Gangschaltung am Velo ist mitzuhelfen, dass man am Berg möglichst lange im Sattel sitzen bleiben kann und bei starken Steigungen nicht aufstehen und stampfen oder sogar absteigen und das Velo schieben muss. Doch damit die Gangschaltung diese Aufgaben erfüllen kann, braucht es Köpfchen. Auch beim Velofahren muss man beobachten und vorausschauend denken, damit man im richtigen Moment auch in den richtigen Gang schaltet. Das gilt ganz besonders für die Kettenschaltung. Denn bei dieser Schaltung ist der Schaltvorgang nur dann erfolgreich, wenn sich die Kette nach vorne bewegt und die Spannung auf der Kette nicht zu gross ist. Mit andern Worten: Wer zu spät schaltet, verliert den Rhythmus und schadet der Kette.

Diese Velofahrer-Weisheit gilt sogar für das Schalten und Walten im privaten und beruflichen Alltag. Es ist nicht nur beim Velofahren von Vorteil, vorausschauend zu denken und rechtzeitig einen Gang herunterzuschalten. Und es gehört zur Lebenskunst, eine Sache langsam und bewusst anzugehen, ein schwieriges Gespräch mit freundlicher Stimme zu eröffnen oder den Tag gelassen und ohne Hetze zu beginnen. Es bringt wenig, mit dem Velo kopflos in einen steilen Berg hinein zu fahren, und es bringt ebenfalls wenig, sich am Morgen kopflos in den Tag zu stürzen. Unerfahrenen Velofahrern kann es immer wieder passieren, dass sie in zu hohen Gängen fahren. Sie versprechen sich ein intensiveres Krafttraining, wenn sie härter in die Pedale treten müssen. Doch das ist oft nur Wunschdenken. Kleinere Gänge und leichtere und schnellere Umdrehungen garantieren Anfängern einen besseren Erfolg. Die kleinen Gänge bringen einen zwar ein bisschen langsamer, aber dafür weniger Kraft raubend ans Ziel heran.

Man kann übrigens auch im Alltag mit einem zu grossen Gang unterwegs sein. Das geschieht vor allem dann, wenn man auf zu grossem Fuss lebt, mit zu grosser Kelle anrichtet oder zu grosse Ansprüche an sich und die andern stellt. Auf Velotouren und im Alltag besteht somit das Risiko, zu schnell an die eigenen Grenzen zu kommen oder von anderen abgehängt zu werden, wenn zur falschen Zeit ein zu grosser Gang gewählt wird.

Aber nichts gegen die grossen Gänge. Eine Velofahrt ohne die grossen Gänge wäre nur halb so lustig. Und ein Velorennen oder einen Sprint kann nur gewinnen, wer in grossen Gängen lange Strecken fahren kann. Auch auf Passstrassen braucht es die grossen Gänge, um aus den Kurven heraus richtig beschleunigen zu können. Und wer steil bergab fest im Sattel sitzen bleiben will, sollte erst recht in grossen Gängen fahren. Aber beides gilt: Man kann zu früh in zu grosse Gänge schalten und man kann zu spät in die grossen Gänge schalten.

Das heisst, man kann auch im privaten und beruflichen Alltag in zu kleinen Gängen unterwegs sein. Das trifft vor allem dann zu, wenn es nicht mehr gelingt, grosszügig über kleine Unvollkommenheiten hinwegzuschauen, ab und zu ein Auge zuzudrücken und «fünfe gerade sein zu lassen.» Und es trifft zu, wenn man plötzlich nur noch sich selber sieht und zum Rappenspalter geworden ist.

21 bis 27 Gänge am Velo sind ausgezeichnet. Die vielen Gänge bieten einen grossen Spielraum, dem Gelände stets angepasst, kreativ, gemütlich oder sportlich und mit Freude und Genuss durch die Landschaft zu pedalen. Und die vielfältigen Lebensmöglichkeiten bieten andererseits einen abwechslungsreichen Spielraum, jeweils den Verhältnissen entsprechend grosszügig oder verschlossen, bestimmend oder nachfolgend, lauter oder leiser, bewegt oder still durchs Leben zu gehen.

ROBERT SCHNEITER


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