Vom Zauberer und vom Magier

  20.07.2018 Kultur, Saanen

Das Eröffnungswochenende des Gstaad Menuhin Festivals stand unter dem Zyklus «Seasons recomposed». Am Sonntagabend zaubereten dazu Andrés Gabetta und Mario Stefano Pietrodarchi gemeinsam mit der Cappella Gabetta Klangfarben voller Leichtigkeit und Leidenschaft.

BLANCA BURRI
Ein gewagtes Konzertprogramm servierte Intendant Christoph Müller dem Publikum im Zyklus «Seasons recomposed» am Eröffnungswochenende: Am Freitag spielten Daniel Hope und das Zürcher Kammerorchester eine rockige Fassung von Vivaldis «Vier Jahreszeiten», welche der sphärischen Auslegung von Max Richter gegenübergestellt wurde, am Samstag hob das beliebte Ensemble von Paul McCreesh zu einer über dreistündigen Jahreszeitenreise von Joseph Haydn ab und am Sonntag bildete die barocke Fassung von Vivaldis «Die vier Jahreszeiten» einen Kontrapunkt zu Astor Piazzollas «Cuatro estaciones porteñas», die dem Tango gewidmet sind. Das Wagnis hat sich gelohnt, die Presse ist voller Lob für den Mut des Intendanten und die Leidenschaft sowie die Präzision der Musiker.

Jungfräuliche Klänge
Singend verspielt verkündeten die historischen Instrumente am Sonntagabend den Frühling. Solist Andrés Gabetta blieb ganz in sich gekehrt, als er zu seinen Soli ansetzte, ebenso zurückhaltend war der Austausch mit der Cappella Gabetta. Er setzte auf seiner Violine feine, klare und jungfräulich anmutenden Klänge frei, die den letzten Winkel der vollbesetzten Kirche durchdrangen. Still und aufmerksam sass das Publikum auf den Plätzen, sodass kaum ein Ächzen der Holzbänke oder -dielen zu hören war.

Gegensätzlicher könnte es nicht sein
Welchen emotionalen Gegensatz bildeten die vier Jahreszeiten aus Buenos Aires von Astor Piazzolla (1921–1992), welche mit dem Winter beginnen. Mario Stefano Pietrodarchi, in schwarz gekleidet und einen violett-grünen Schal um den Hals drapiert, verkörperte nicht nur äusserlich, sondern mit seiner ganzen Ausstrahlung die Leidenschaft des Tangos. Er umfasste das Bandoneon wie einen Liebespartner, einmal zart, dann wieder kräftig und forsch. Er entlockte dem Schwyzerörgeli-ähnlichen Zuginstrument leidenschaftliche Klangfarben. Während des Spiels konnte er kaum stillsitzen und unterstützte sein Instrument mit beatboxartigen Rhythmen. Noch erstaunlicher war, wie leicht die Cappella Gabetta von einer Emotion in die nächste wechselte. Ohne mit der Wimper zu zucken, spielten sie erst lieblichen Barock, in der nächsten Minute tauchten sie in die spannungsgeladene Tangosphäre ein. Dieses Wechselspiel wurde fortgesetzt, weil die vier Jahreszeiten der zwei Komponisten abwechselten. In jedem Satz genoss man den Moment und vermisste gleichzeitig den vorangegangenen. Während des impulsiven Tangos sehnte man sich nach der Erlösung im leicht verdaulichen Barockstück. Und als man in Vivaldi schwelgte, freute man sich bereits wieder auf die Energie des Bandoneons, das manchmal seinen (Liebes-)Kummer mit dicken Krokodilstränen zu erzählen schien.

Als ob sich der Wettergott von den Gegensätzlichkeiten hätte anstacheln lassen, zog ein Gewitter auf, deshalb musste Mario Stefano Pietrodarchi für seinen letzten Einsatz vom Künstlerraum in der St.-Anna-Kapelle zur Kirche unter dem Regen hindurchrennen, wo er zum Finale anhob. Zauberer Andrés Gabetta und Magier Mario Stefano Pietrodarchi sowie die Cappella Gabetta wurden mit tosendem Applaus, Bravorufen und stampfenden Füssen belohnt, bevor sich das Publikum wegen des tosenden Gewitters in Windeseile auflöste.


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