Vom Zauberer von Lublin zum Broadway

  24.07.2018 Saanen, Kultur, Konzert

Locker, witzig und innovativ führte der Starviolonist Nigel Kennedy mit seiner Band am Freitagabend in der vollbesetzten Kirche von Saanen durch ein aussergewöhnliches Konzert des Menuhin Festivals. Virtuos und spektakulär spannte der Vollblutmusiker mit der Irokesenfrisur und der poppigen Jacke den (Geigen-)Bogen vom puren Bach-Klassiker über jiddisch-osteuropäisch geprägte Selbstkompositionen bis hin zu Gershwins weltbekannten Broadway-Melodien.

MARTIN GURTNER-DUPPEREX
Dabei begann der Abend in der Mauritiuskirche konventionell und in geordneten Bahnen mit der wunderbaren Sonate für Violine solo Nr. 1 in g-moll, BWV 1001, von Johann Sebastian Bach. Schliesslich sei Bach sein Lieblingskomponist, wie der ehemalige Menuhin-Schüler Nigel Kennedy in der Einleitung gutgelaunt verraten hatte, um gleich augenzwinkernd anzufügen, dass sein zweitliebster Komponist … er selber sei. So kam es zu einem überraschenden Szenenwechsel: Inspiriert durch den Roman «Der Zauberer von Lublin» des jiddisch schreibenden Literatur-Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer wurden durch die Selbstkompositionen Kennedys unvergessliche Figuren wie der Zauber- und Lebenskünstler Yascha und seine Freundinnen Zeftel, Elziata, Magda, Emilia und Halina zum Leben heraufbeschworen. Man tauchte ein in die Welt der Freuden und Leiden des osteuropäischen jüdischen Schtetls des späten 19. Jahrhunderts, einer längst untergangenen Welt: schwermütige, volkstümlich jiddisch-orientalisch inspirierte Melodien wechselten ab mit Freudentänzen, die durch unglaublich wilde Crescendos in einen schwindelerregenden Abschluss mündeten. Es mochte niemanden mehr verwundern, dass zudem ein Hauch von Jazz-Improvisation durch die heilige Halle wehte und sich zur gleichen Zeit draussen ein Gewitter mit Donnergrollen und Blitzschlag zusammenbraute.

Gershwins Ohrwürmer
George Gershwin – wer kennt ihn nicht, den amerikanischen Komponisten unvergesslicher Broadway-Ohrwürmer? Als Sohn von armen russisch-jüdischen Einwanderern wurde er 1898 in Brooklyn geboren. Der Bogen vom Schtetl zu Gershwin und zum zweiten Teils des Abendprogramms war gespannt. Nach einem prüfenden Blick auf die Notenblätter und unter dem Gelächter des Publikums meinte Nigel Kennedy, dass Programme da seien, um abgeändert zu werden. Trotz geänderter Reihenfolge durften aber natürlich jazzig interpretierte Jahrhunderthits wie «Rhapsody in Blue», «Borgy and Bess» oder «Oh, Lady Be good» nicht fehlen. Intendant Christoph Müller erklärte auf Anfrage, dass Nigel Kennedy keine Originale spiele, sondern – wie andere Musiker auch – Arrangements mit Gershwin-Standards improvisiere. «Kennedy ist faszinierend, weil er innovativ bleibt und immer neue Kombinationen erfindet, seinen Horizont erweitert und seine eigene Marke kreiert», so Müller. Spätestens nach dem enthusiastischen Applaus des Publikums geriet im Zusatzprogramm alles aus den Fugen: Die Notenblätter und das Programm flogen in hohem Bogen weg, dann wirbelten rasante Zigeunermelodien sowie energie- und emotionsgeladene Musik jiddischer Tradition durch die Kirche, dass die Dielen krachten. Die Geige des Meisters, die ungeahnte Höhenflüge und Tempi erreichte, provozierten im Publikum ein Gewitter schallender Bravorufe, Fussgetrampel und stehender Ovationen. Mit über sechzig Jahren ist Nigel Kennedy immer für einen Überraschungscoup bereit und bleibt das Enfant terrible der internationalen Klassikerszene – im positiven Sinn!


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