Wenn Bündnisse ins Rutschen geraten

  03.07.2018 Leserbeitrag

Bündnisse zwischen Staaten sind nichts für die Ewigkeit. Manchmal können einst scheinbar festgefügte Allianzen ins Rutschen geraten oder sich gar in Luft auflösen. Ein berühmtes Beispiel ist das «Renversement des alliances» (Umkehrung der Allianzen), eine fundamentale Wende im europä ischen Bündnissystem um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Jahrhunderte alte Feindschaft zwischen Frankreich und dem Haus Habsburg-Österreich wurde beendet. Die Annäherung der beiden führenden kontinental-europäischen Mächte wurde unter anderem durch eine neue Bündnispolitik des aufstrebenden Königreichs Preussen mit England mitverursacht.
Auch heute lösen sich in Europa einstige bündnispolitische Gewissheiten auf. Die transatlantische Allianz zwischen Europa und den USA durchlebt eine schwere Krise. Ganz unverhofft geschieht das nicht. Schon Donald Trumps Vorgänger im Weissen Haus, Barack Obama, hat seine strategische Aufmerksamkeit eher dem pazifischen Raum zugewandt und Europa nicht selten die kalte Schulter gezeigt. Doch Obama war berechenbar und verbindlich, stellte nicht gleich alles auf den Kopf, liess mit sich reden. Das ist heute anders.
Natürlich, viele transatlantische Gemeinsamkeiten, Werte und Abhängigkeiten bilden nach wie vor eine starke Klammer. Doch die Gefahr besteht, dass sich das gegenwärtig zerrüttete Verhältnis zwischen den USA und ihren westlichen Partnern in Europa zu einem ernsthaften Zerwürfnis mit gravierenden Folgen auswächst. Denn es ist schon dicke Post, wie sich Trump gegenüber verbündeten Staaten und Partnerländern verhält. Er führt die G7-Regierungschefs an der Nase herum, indem er eine zuvor gegebene Unterschrift zur Abschlusserklärung des Gipfels in Kanada nachträglich zurückzieht. Er brüskiert durch seinen radikalen Protektionismus enge Handelspartner, er droht Freund und Feind mit Sanktionen, er steigt aus dem Pariser Klimaabkommen ebenso aus wie aus dem mühsam erarbeiteten Atomabkommen mit Iran. Kurz darauf veranstaltet er dagegen mit Nordkoreas Diktator eine Friedens-Show, deren Substanz äusserst dürftig und wenig konkret ist und die – auch wenn die Entspannung absolut zu begrüssen ist – wegen fehlender Substanz und Klarheit die Gefahr erneuter Eskalation in sich birgt.
Vor allem aber kanzelt Trump Spitzenpolitiker westlicher Staaten ab, straft sie mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung. Was sich etwa Kanadas Regierungschef Justin Trudeau als Gastgeber des jüngsten G7-Gipfels, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel von Trump gefallen lassen mussten und müssen, ist skandalös. Ausgerechnet Merkel, die sich immer unzweideutig für die Westbindung ihres Landes eingesetzt hat.
Ein rasches «Renversement des alliances» wird es deswegen nicht geben. Aber wenn die USA ihren Boss weiterhin so fausten lassen und ihn gar in eine zweite Amtszeit schicken sollten, dann könnten sich Europas geopolitische Interessen mit der Zeit doch stark verändern. Es gibt wenig Grund, auf immer und ewig an der bedingungslosen Nibelungentreue zu den USA festzuhalten, wenn Washington beginnt, Europa wie eine Kolonie zu behandeln. Es ist auch eine Frage der europäischen Selbstachtung, hier rote Linien zu ziehen – auch wenn es wirtschaftliche Nachteile bringen sollte und die Kosten für eine eigenständigere Sicherheitspolitik steigen werden.
Weder die Europäische Union noch einzelne europäische Staaten werden sich Russland oder China einfach so an die Brust werfen. Entfremdungen und Annäherungen in der Staatenwelt sind lange, jahre- bis jahrzehntelange Entwicklungen. Der Besuch Merkels bei Putin in Sotschi und jener Macrons in St. Petersburg im Mai weisen jedoch darauf hin, dass man ein neues Verhältnis zu Moskau sucht. Macron rief sogar zu einem Neuanfang in den Beziehungen auf: Russland sei Teil Europas, man müsse Differenzen überwinden und sich auf gemeinsame Interessen konzentrieren. Einfach wird dies nicht werden. Aber es ist doch eine ungewohnte Erfahrung, dass Europa in wichtigen Zukunftsfragen – vom Klimaabkommen bis zum Atomabkommen mit Iran – plötzlich mehr Gemeinsamkeiten mit Russland und China teilt als mit den USA.

Die weitere Entwicklung hängt von mindestens drei Faktoren ab: Brüskiert Trumps Amerika Europa weiterhin? Wie geschickt reagiert Putins Russland darauf? Und vor allem: Kann die EU angesichts dieser unkomfortablen Sandwichposition ihre Reihen schliessen, eine eigenständige Haltung entwickeln – und vor allem ihre zahlreichen internen Probleme lösen?

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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