«Wir wissen es» – Erinnerungen an die Kriegsjahre

  31.08.2018 Saanenland

In unserer Reihe «Aus alter Zeit im Saanenland» erzählen Leser/innen Episoden – Geschichtliches, Erlebtes, Erinnerungen – aus früheren Zeiten. In der heutigen Folge schreibt Anton Ruesch über seine Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Ich habe diese Jahre noch in lebhafter Erinnerung. Als Kind hat man sie sicherlich nicht so intensiv erlebt wie als Erwachsener. Trotzdem, es fing damit an, dass plötzlich der Vater in den Aktivdienst einrücken musste und monatelang von zu Hause weg war. Dann kam die Verdunkelung, die im Spätherbst 1940 angeordnet wurde. Sie war nicht, wie viele annahmen, eine Schutzmassnahme vor Fliegerangriffen, sondern der Bundesrat hatte sie aus neutralitätspolitischen Überlegungen ergriffen. Es wurde heftig darüber diskutiert, ob nicht gerade diese Massnahme die Gefahr von Bombenabwürfen eher noch erhöht hatte. Ab 7. November 1940 mussten zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr früh alle Aussenlichter gelöscht werden, ab 1942 bereits um 20 Uhr. Im September 1944 wurde diese Verordnung dann wieder aufgehoben. Zu dieser Zeit mussten während der vorgeschriebenen Stunden sämtliche Fenster verhängt werden, sodass gar kein Licht nach aussen dringen konnte; auch wurden blaue Glühbirnen benutzt, die ein fahles Licht abgaben, bei dem man noch knapp sehen konnte. Neutralität hin oder her, die alliierten Fliegerverbände benutzten dennoch den schweizerischen Luftraum, um schneller an ihre Ziele gelangen zu können. Einige Flugzeuge wurden auch wegen dieser Neutralitätsverletzung zur Landung gezwungen. Die Bomber hatten manchmal Mühe, mit ihrer Last die Alpen zu überfliegen, und so wurden auch Bomben über unserem Territorium abgeworfen. Einige Phosphorbrand- und eine Splitterbombe hatten deswegen 1943 beim Haldisbergli (Längenboden) auf der Wispile eingeschlagen. Diese Überflüge führten zu verschiedensten Protesten unserer Regierung an Grossbritannien und die USA, aber ohne allzu grossen Erfolg; denn die Schweiz fürchtete sich natürlich all die Jahre wegen möglicher Vergeltungsschläge der deutschen Luftwaffe. Aus dieser Zeit kommt mir noch ein schöner Witz in den Sinn: Während eines solchen Überflugs der RAF funkte unsere Fliegerabwehr folgende Mitteilung in den Äther hinauf: «Ihr befindet euch über schweizerischem Luftraum, und wir sind gezwungen, auf euch zu schiessen.» Die Briten antworteten: «Wir wissen es, wir wissen es.» Worauf die Schweizer: «Wir fangen nun an zu schiessen.» Die Briten erneut: «Wir wissen es, wir wissen es.» Dann plötzlich ein Funkspruch der Engländer: «Ihr schiesst ca. 50 Meter neben unseren Flugzeugen vorbei.» Worauf unsere Flab: «Wir wissen es, wir wissen es.»

Am Radio war ab und zu die Stimme Adolf Hitlers – des «Gröfaz» oder «grössten Feldherrn aller Zeiten», wie man ihn spöttisch zu nennen pflegte – zu hören. Meine Mutter, eine geborene Kanadierin, schimpfte dann immer über die «cheibe Dütschi». Dann tönte des öftern, in den folgenden Jahren des Krieges, das berühmte «Pum – pum – pum – pum» oder der Anfang der fünften Symphonie von Ludwig van Beethoven. Angeblich war dies ein Zeichen für die französische Untergrundbewegung, den nachfolgenden verschlüsselten Mitteilungen, die dann für sie gesendet wurden, ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Das Saanenland gehörte natürlich zum berühmten Reduit, einer in den Alpen errichteten Verteidigungsstellung, in die sich die Schweizer Armee im Falle einer Invasion zurückgezogen hätte. Man wollte dann den Kampf aus strategisch günstigen Stellungen hartnäckig weiterführen. Dies hatte zur Folge, dass viele Unterländer während der Dauer des Krieges in ihren Chalets in Gstaad wohnten. Das Palace Hotel erhielt einen ganz besonderen Zusatzbau, nämlich einen unterirdischen, zweistöckigen Tresorraum mit bombensicheren Eisenbetonmauern, in dem das Gold und andere Schätze der Schweizerischen Bankgesellschaft gelagert wurden. Auch im Chalet Flüehli auf dem Oberbort hatte es damals Gold, bewacht und betreut von einem Herrn Ernst Lötscher, der später in Gstaad ansässig wurde. Die Basler Versicherung hatte ihre Administration auch in das Reduit gezügelt, nämlich in die Farb bei Saanen. Eines Tages kam ein Agent der «Basler» bei der Papeterie Cadonau vorbei und erkundigte sich, ob es wohl möglich wäre, bei ihnen einen Keller zu mieten. Sie wurden bald handelseinig und von da an erhielten die Cadonaus regelmässig Pakete von dieser Versicherung, für die sie immer quittieren mussten. Huldy Cadonau wunderte sich oft über das Gewicht dieser relativ kleinen Sendungen, die sie immer sofort in dem dafür reservierten Keller aufstapelte. Sporadisch kam ein Vertreter vorbei, der den Inhalt überprüfte. Erst später realisierte sie, dass sie einen grossen Teil des Goldes dieser Agentur bei sich gelagert hatte. Amüsant ist noch, dass es sich bei diesem Keller um ein ganz gewöhnliches Abteil mit einer Holzlattentüre, nur mit einem Maletschloss gesichert, gehandelt hatte. Hinter den Eisenbahnschienen der MOB, bei der Landwirtschaftlichen Genossenschaft, befand sich ein riesiges, unterirdisches Treibstofflager. Auf dem Militärflugplatz Saanen herrschte reger Betrieb, und wir konnten dort auch die ersten Vampir-Jets unserer Flugwaffe besichtigen.

Auch andere Erinnerungen werden wieder wach, so die Anbauschlacht des damaligen Bundesrates Friedrich Traugott Wahlen, die zur Folge hatte, dass der ganze hintere Teil des Riedhubels ein riesiger «Kartoffelpflanzblätz» wurde. Die Anteile wurden unter die Gstaader Bevölkerung zur Bewirtschaftung verteilt.

Auch das Land zwischen dem Palace Hotel und dem Alpina wurde auf diese Weise genutzt. In den Wäldern lagen nirgends mehr Holzabfälle herum, so sauber waren diese später nie mehr aufgeräumt. Ganze Schulklassen mussten an freien Nachmittagen Tannenzapfen sammeln oder Kartoffelkäfer ablesen.

Für den damaligen Luftschutz, eine paramilitärische Organisation, die man später in anderer Form in die Armee eingliederte, durften wir Kinder für die Sanitätstruppen Verwundete markieren. Als «Versehrte» erhielten wir eine Etikette umgehängt, die den Grad der Verletzung anzeigte; je schlimmer sie war, desto stolzer war man. Sehr häufig heulte die Sirene, die sich auf dem Dach der Bäckerei von Siebenthal befand.

Die Lebensmittel waren rationiert. Bestimmte Mengen Fleisch, Brot, Mehl, Reis, Milch usw. wurden jedem Erwachsenen und jedem Kind zugeteilt und es wurde pingelig darauf geachtet, dass die Verteilung korrekt erfolgte. Die zuständigen Behörden verfügten, wie viele Eier pro Person oder wie viel Schokolade einem jeden zur Verfügung standen. Wenn man, wie in Gstaad, auf dem Lande wohnte, hatte man immer wieder Gelegenheit, sich bei befreundeten Bauern, Hoteliers oder Metzgern mit dem einen oder andern auch «schwarz» einzudecken. Viele Männer gingen auf die Jagd, und es wurde auch ganz brav gewildert. In einem Untergeschoss im Primarschulhaus in der Rütti gab es für die Schulkinder jeden Mittag eine währschafte Suppe, von der wir in einem Pintli für die, die das wollten, eine Portion nach Hause bringen konnten.

Es hatte auch Flüchtlinge und Internierte, die beherbergt werden mussten. So waren dem Palace Hotel an die 150 Soldaten und ein Dutzend Offiziere der französischen Armee zugeteilt. Die Soldaten wurden auf Strohlagern in den leer stehenden Autoboxen einquartiert und durch die Schweizer Armee verpflegt. Die Offiziere bemühten sich um bequemere Unterkünfte.

Die MOB besass zu der Zeit vier Dampflokomotiven, deren zwei im Depot Gstaad untergebracht waren. Mit diesen Loks wurden verschiedene Probefahrten durchgeführt als Vorbereitung auf einen Einsatz bei eventuellem Stromausfall.

ANTON H. RUESCH

Wissen auch Sie noch Begebenheiten aus früheren Zeiten? Zögern Sie nicht, greifen Sie zur Feder und schreiben Sie uns: «Anzeiger von Saanen», Anita Moser, Redaktion, Kirchstrasse 6, 3780 Gstaad, oder per Mail: anita.moser@ anzeigervonsaanen.ch.


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