Die Räder

  10.08.2018 Leserbeitrag

Um Fahrräder zu konstruieren, musste das Rad vor 200 Jahren nicht neu erfunden werden. Schon 5300 Jahre bevor Karl Drais in Karlsruhe das Laufrad erfunden hatte, drehten sich die ersten Räder in Europa und Asien um die eigene Achse. Ganz neu war jedoch, dass sich die zwei Räder nicht mehr nebeneinander drehten wie bei einem Handkarren oder Streitwagen, sondern hintereinander. Diese Anordnung der Räder bedingte von allem Anfang an, dass die Benutzer von Velos in Bewegung bleiben mussten, wenn sie die Balance halten wollten. Albert Einstein erinnerte seinen Sohn Eduard in einem Brief an dieses physikalische Velo-Gesetz, als er ihm schrieb: «Das Leben ist wie Fahrrad fahren. Um das Gleichgewicht zu halten, musst du in Bewegung bleiben.»

Um das Gleichgewicht auf dem Velo zu halten, muss aber auch noch ein weiteres physikalisches Gesetz beachtet werden. Bewegung alleine genügt nicht, um die Balance zu halten. Wenn alles rund laufen soll, dann müssen die Räder eine Mitte haben, um die sie sich drehen können. Räder, die nicht genau zentriert sind, «eiern». Und «eiernde» Räder bringen die Fahrenden aus dem Gleichgewicht und stören die Bewegung.

Jedes Teil eines Rades muss Verbindung haben zur Mitte und sich auf das beziehen, was innen ist. Auch das Rad der Lebenszeit braucht eine solche Mitte. Die Zeit, während der man im Sattel sitzt und mit dem Velo durch die Landschaft rollt, ist darum auch die ideale Zeit, sich zu fragen: Läuft es rund bei mir oder «eiere» ich durch die Zeit? Worum kreist mein Leben? Worum dreht sich alles bei mir? Ist mein Leben überhaupt auf eine Mitte bezogen? Nur wer seine Mitte gefunden hat, lernt sich selbst wirklich kennen und kann mit gesundem Selbstwertgefühl erfüllt werden.

Jedes Velorad dreht sich um die eigene Mitte. Die hintere Achse kann also nicht eines Tages zur vorderen sagen: «Ab heute drehst du dich um meine Achse!» So muss auch jeder Mensch die Freiheit haben, seine eigene Mitte zu suchen und selber zu bestimmen, worum sein Leben kreisen soll. Ruhe und Befriedigung findet der Mensch nur in sich selbst, nicht in äusseren Dingen, schrieb der russische Schriftsteller Anton Tschechow. Wer überall «mitdrehen» und gleichzeitig überall sein will und nie genug sieht, hat die eigene Mitte wohl noch nicht gefunden. Und wer stets unruhig und nervös von einem Ort zum andern hetzt, hat Mühe, die eigene Mitte zu finden und bei sich selbst anzukommen. Aber jeder Mensch ist letztlich reich an Schätzen und Möglichkeiten, das zu finden, was erfülltes Leben und innere Freiheit schenkt.

Veloräder müssen ihre Mitte nie selber suchen. Die Mitte, die Nabe, ist immer schon ein Teil des Rades. Aber obwohl die Mitte des Velorades als Nabe bezeichnet wird, käme ein Velorad nie auf den Gedanken, sich abzunabeln oder sich als den Nabel der Welt zu halten. Denn das vordere Rad ist auf das hintere und das hintere auf das vordere angewiesen. Und nur wenn beide Räder sich in der gleichen Richtung um ihre Mitten drehen, bleiben das Velo in Bewegung und der Fahrer im Sattel. Albert Einstein hätte darum seinem Sohn ergänzend schreiben können: «Gemeinschaften und Gruppen können nur dann lebendig bleiben und Fortschritte machen, wenn sich kein Mitglied abnabelt oder sich für den Nabel der Welt hält.»

ROBERT SCHNEITER

«Anzeiger von Saanen» Leserreise 2019 – Velowoche plus
12. bis 19. Mai 2019 – Frühling in der Provence und Camargue Teilnehmende ohne Velo sind herzlich willkommen.


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