Fantastische Flussfahrt und hochromantischer Brahms

  10.08.2018 Kultur, Konzert

Im Rahmen des Menuhin Festivals gab die Pianistin Hélène Grimaud letzten Montag in der Kirche Saanen ein Solorecital. Sie spielte Werke von Berio, Takemitsu, Fauré, Albéniz, Liszt, Janácˇek, Debussy und Brahms.

ÇETIN KÖKSAL
Entgegen des ursprünglich angesetzten Programms bestehend aus Werken von Valentin Silvestrov, Claude Debussy, Erik Satie, Frédéric Chopin und der zweiten Sonate von Sergei Rachmaninow hatte sich die Künstlerin dazu entschieden, das Publikum auf eine andere Reise mitzunehmen. Der erste Teil des Konzerts widmete die auch in Umweltfragen engagierte Hélène Grimaud dem kostbaren Gut Wasser. Die imaginäre Flussfahrt begann an der sprudelnden Quelle mit Luciano Berios «Wasserklavier». Das Bächlein von Toru Takemitsu wurde durch «Ame no ki sobyù II – Rain Tree Sketch II» zum ansehnlichen Bach. Mit der Barcarolle Nr. 5 von Gabriel Fauré und den «Jeux d’eau» von Maurice Ravel zeigte die Künstlerin den Zuhörern kleinere und grössere Wirbel im bereits zum Flüsschen gewordenen Gewässer. Pausenlos perlte es in zuweilen meditativer Weise durch die Kirche. Nun wusste man, wie sich der hinlänglich bekannte griechische Aphorismus «panta rhei» (alles fliesst) anfühlt. Bei Isaac Albéniz’ «Iberia»-Suite hatte die Reiseführerin Hélène Grimaud das Mauritiusschiff bereits weit in den hispano-maurischen Süden geführt. Vom zum ansehnlichen Strom gewordenen Fluss aus konnte die Gesellschaft die mediterrane Landschaft bestaunen, exotische Düfte wahrnehmen und das einzigartige Licht geniessen. Jedes fliessende Gewässer führt einmal in ein Meer, oder, wie an diesem wundersamen Abend geschehen, in einen See. Von seinem am Ufer des Lago di Como ankernden Schiffs aus konnte das Publikum die verspielt verzaubernden Wasserspiele der Villa d’Este aus Franz Liszts «Années de pèlerinage» betrachten, bevor das Konzertschiff in die mystischen Nebel von Leoš Janácˇ ek «Dans les brumes» entschwand. Niemand hat das Schiff je wiedergesehen. Man munkelt, dass es in Claude Debussys «Cathédrale engloutie» untergegangen ist und nun ohne Kapitänin herumgeistert …

Zurück in die Romantik …
Im zweiten Teil des Konzerts trug die eigenwillige Künstlerin die sehr sinfonische Klaviersonate Nr. 2 von Johannes Brahms vor. Über die ausserordentlichen pianistischen Fähigkeiten von Hélène Grimaud kann man sich nicht streiten. Die stupende Technik und das Beherrschen von unzähligen Klangfarben und -facetten sind schlicht zu eindeutig, als dass sich darüber ernsthaft diskutieren liesse. Ihre Interpretationen hingegen polarisieren durchaus. Die bis ans Äusserste geführten Temposchwankungen und die ebenso manchmal beinahe an die Schmerzgrenze ausgeführte Dynamik entsprachen bestimmt nicht jedermanns Vorstellung von Brahms. Genau dies will Hélène Grimaud beim Publikum erreichen. So bekamen die Zuhörer eine nicht schon zigfach gehörte Version dieser Sonate geboten. Leise, zart, zerbrechlich und kraftvoll, mächtig, manchmal fast brutal zugleich. Was man bei anderen Pianisten vielleicht als zu individualistische Effekthascherei empfinden könnte, nimmt man Hélène Grimaud als eigenwillige, durchaus berechtigte – weil äusserst authentische – gereifte Interpretation ab. «Die Musik hat mich gerettet», sagte sie einmal in einem Interview und das trifft es auf den Punkt. In jeder Minute auf der Bühne lebt die Pianistin die Musik mit jeder Faser ihres Körpers. Ein quasi existentialistischer Akt, an dem sie das Publikum teilhaben lässt, weil sie gar nicht anders kann. Diese Tatsache verleiht Hélène Grimaud absolute Glaubwürdigkeit.


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