Gstaad, wie es damals war

  14.08.2018 Gstaad

In unserer Reihe «Aus alter Zeit im Saanenland» erzählen Leser/innen Episoden – Geschichtliches, Erlebtes, Erinnerungen – aus früheren Zeiten. In der heutigen Folge erinnert sich Anton Ruesch an «Gstaad, wie es damals war».

Ich hatte das grosse Glück, als Kind im schönen Saanenland, und ganz besonders in Gstaad, aufwachsen zu dürfen. Es war damals alles viel einfacher. Die Häuser hatten zum Teil noch Plumpsklos mit hölzernen Donnerbalken, mit einem runden Loch darin und der darunterliegen «Schissbochte». Badezimmer und fliessendes Heiss- und Kaltwasser waren ein Luxus, den sich die wenigsten leisten konnten. Es gab noch Waschbecken in den Zimmern und ein «Brünneli» mit kaltem Wasser in der Küche. Gebadet wurde einmal in der Woche in der Waschküche in einem grossen «Waschzüber». Man heizte mit Holzöfen und kochte teilweise mit einem Holzherd, dem «Potaschi». Die Pfannen wurden über einem Loch ins Feuer gehängt, das man mit Ringen, die eingesetzt wurden, je nach Kochtopf vergrössern oder verkleinern konnte. Im Herbst kauften die Leute einige Ster Holz. Sager Steffen kam jeweils mit seinem originellen Gefährt auf die Stör. Es handelte sich, wenn ich mich recht erinnere, um einen kleinen Fiat mit einer darauf montierten Bandsäge oder Fräse. Mit ohrenbetäubendem Lärm verkleinerte er bei seinen Auftraggebern das aufgestapelte Brennmaterial. Anstelle von zwei- und dreifach Verglasung brauchte man Vorfenster, die jeden Herbst eingehängt und im Frühling wieder entfernt wurden. TV und Stereoanlagen gab es keine. An kalten Winterabenden hörte man Radio, vor allem Hörspiele wie «Polizischt Wäckerli» oder solche von Gotthelf. Kühlschränke, Staubsauger, Waschmaschinen, Mixer usw. waren in den Haushalten noch sehr spärlich vorhanden. Private Telefonanschlüsse hatten lange nicht alle – die Nummern waren damals nur zweistellig – und ein Auto war für die meisten eine Utopie.

Die Schotterstrasse, die durch das Dorf führte, war bombiert und die Strassengräben aus Erdmaterial. Von Saanenmöser nach Zweisimmen – den kurvigen Reichenstein hinunter – sowie in die Lauenen führte damals eine Kiesstrasse. Zwischen den verschiedenen Häusern gab es noch Kieswege. Vor den Geschäften hatte es die sogenannten «Bsetzischteine», Kalksteinplatten, die zum Teil noch schöne Verzierungen aufwiesen. Vom Charly’s Tea-Room bis zum Kählenweg stand ca. alle fünf Meter ein stattlicher Ahornbaum mit einer dunkelgrünen Bank darunter, die mit den schwarzen Initialen VVG (Verkehrsverein Gstaad) gekennzeichnet war. Vor dem Eingang zum Dorf-Tennisplatz gab es eine Art Tor, ähnlich jenem vor der verbotenen Stadt in Peking: zwei Holzpfähle mit einer ca. vier Meter langen Verbindungstafel, auf der «Eisbahn Gstaad AG» stand. Es waren auch noch viel mehr Grünflächen vorhanden: eine grosse Wiese um die drei Dorf-Tennisplätze, die nur vom Strässchen in die Kählen unterbrochen bis an den Park des Hotels Bellevue reichte. Die Kantonalbank von Bern und das katholische Pfarrhaus waren noch nicht an ihrem jetzigen Standort; an ihrer Stelle befand sich eine grosse «Matte» zwischen dem Hause Bettler-Hefti und dem Hotel National. Die Hotels Bernerhof, Viktoria, National und Rössli besassen alle einen Garten mit Bäumen und Sitzplätzen, die den Gästen zur Verfügung standen. Hinter dem Hotel Olden stand ein Pingpongtisch, der auch von der Dorfjugend rege benutzt wurde. Vor dem Hotel Bernerhof war ein grosser Vorplatz, auf dem wir Kinder uns stundenlang dem «Glasmarmelspiel» hingeben konnten. Auf dem Riedhubel, in der Kählen oder auf beiden Seiten der Zuschauertribüne bei den Dorf-Tennisplätzen gab es keine Chalets.

Vor dem Früchte- und Gemüseladen Müllener war der grosse Chesery-Platz. Im Herbst wurde dort noch gemostet. Viele Familien brachten ihre Flaschen an die Sammelstelle, wo sie anschliessend mit süssem Most gefüllt wurden. Saurer Most wurde keiner hergestellt, das Blaue Kreuz hätte sich dagegen gewehrt. Der Alkoholismus wurde damals noch die Volksgeisel Nr. 1 genannt. Das Sozialnetz, wie wir es heute kennen, war nicht vorhanden und es gab viele Familien, die wegen den Trinkgewohnheiten des Vaters in Armut verfielen. In den Schulen wurden den Kindern Filme gezeigt, die den übermässigen Alkoholkonsum brandmarkten. Am Käsereiplatz wohnte auch ein Herr Müllener, der eine offizielle Sammelstelle führte; man konnte ihm damals die Schwänze von toten Mäusen abliefern und bekam dafür pro Stück 20 Rappen ausbezahlt, was ein ansehnlicher Betrag war.

Was 1999 mit grossem finanziellem Aufwand erreicht wurde, nämlich ein autofreies Gstaad, war vor allem während der Kriegsjahre bereits vorhanden. Es gab im ganzen knapp zehn Automobile, die sich auf den Strassen bewegten und die alle bekannt waren. Herr Deppeler von der Pension Alpenblick besass einen eleganten, beigen, rechteckigen Oldtimer, die Garage Kübli einige Taxis, das Hotel Alpina einen hellblauen Austro-Daimler, Direktor Scherz vom Palace Hotel ein schwarzes Ford Cabriolet mit «Schwiegermuttersitzli», das Bierdepot Reinhard einen wunderschönen hellgrünen Ford LKW mit Doppelbereifung an den Hinterrädern, Dr. Kaufmann einen Jeep. Daneben hatten noch ein paar andere Leute ein Fahrzeug wie z.B. der damalige Fotograf Naegeli, aber viele durften während des Krieges gar nicht fahren.

Wegen des geringen Autoverkehrs war also das ganze Dorf unser Spielplatz, wir hatten auch die Gelegenheit, überall zuzuschauen, wo gearbeitet wurde. So war man dabei, wenn bei Schmied Würsten ein Pferd beschlagen wurde, sah zu, wie bei den Schreinereien Ludi und Baumer Bretter gesägt und gehobelt wurden oder wie man bei Mülleners Stiele drechselte, ging in die Garage Kübli, um sich einige der silbrigen Kügelchen zu ergattern, die es in den Kugellagern von Getrieben gab, beobachtete den Velohändler Gautschi, wie er Fahrräder und Reifen flickte (um selbst noch etwas davon zu profitieren), tummelte sich in Ställen herum und konnte hautnah erleben, wie auf Feld und Acker gepflügt, gemäht und geerntet wurde. Man war beim «Rittermiggi» (Emil Kübli) dabei, wenn der Hengst eine Stute besprang, manchmal sehr zum Unmut des Pferdehalters, der uns laut fluchend fortjagte. Auf dem Weg in den Kindergarten konnten wir durch ein Fenster im Schlachthaus zusehen, wie die Schweine unter fürchterlichem Gequietsche mit einem grossen Holzhammer totgeschlagen und wie Kühe mit dem Schlagbolzen umgelegt wurden. Das Zersägen von ganzen Baumstämmen unter rhythmischem Getöse wurde uns in der Sägerei Dorner veranschaulicht. Wir Kinder waren in den Backstuben der Bäcker und Patissiers zugegen oder auch in der Dunkelkammer eines Fotografen, waren zu Gast in Hotelküchen, Malerateliers, beim Sattler, beim Schneider … Kurz und gut, es war noch vieles möglich, was heutzutage wohl kaum mehr denkbar ist. Im Weiteren gab es noch das Alpinawäldli, wo unser Indianerstamm, «Die schwarze Hand», unzählige Schlachten mit Pfeil und Bogen und Knallzapfenpistolen durchstand.

Anstelle von Autos fuhren im Sommer die verschiedensten Pferdefuhrwerke, sei es von Transporteuren oder Bauern, und es zirkulierten Kutschen mit Hotelgästen. Im Winter – es wurde noch nicht schwarz geräumt und es hatte überall noch meterhohen Schnee – kam die Zeit der Schlitten und der «Trämel»-Fuhren. Das Palace Hotel hatte für jede Saison einen imposanten Vierspänner. Um uns den Schulweg abzukürzen, sprangen wir auf manch ein Gefährt hinten auf und wurden entweder vom betreffenden Kutscher toleriert oder mit der Peitsche weggejagt.

Selbstverständlich organisierte man auch sportliche und kulturelle Anlässe. Im Winter die Skispringen auf der grossen Mattenschanze oder auf der kleinen Schanze in der Kählen (hinter dem Viadukt der MOB) sowie diverse Skirennen. 1940 fanden in Gstaad die Schweizerischen Skimeisterschaften statt. Da sie unter dem Ehrenpräsidium von General Henri Guisan standen, wurden sie zu einem bedeutenden Anlass für unseren Kurort. Während seines Aufenthalts bekam der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee von Gemeindepräsident Walter von Siebenthal eine Einladung zu einem währschaften Mittagessen ins Hotel Palace. Zum Essen gabs das traditionelle Soldatenmenu «Suppe mit Spatz».

Am 1. Januar gab es jeweils ein Eisschaulaufen auf der Dorfeisbahn mit akrobatischen Einlagen, die von meinem Vater, dem damaligen Schlittschuhlehrer, bestritten wurden. Entweder war er als altes «Märitfroueli» verkleidet, das sich kaum auf den Schlittschuhen halten konnte, oder er sprang in einem Fantasiekostüm nach einem tüchtigen Anlauf über eine beachtliche Zahl von Bierfässern. Vom Hotel Alpina in den Kählenweg hinunter und dann bis in die Dorfstrasse gab es früher eine Bobbahn mit ausgebauter Kurve, auf der man sogar mit Viererbob fahren konnte. Später gab es daraus einen Skeleton-Run: eine Bahn für niedrige Sportrennschlitten, mit einer Lenkstange, auf denen man in Bauchlage hinuntersauste. Die Bobsleighs und Skeletons konnten im Sportgeschäft meines Grossvaters gemietet werden. Von der grossen Holztribüne tönten den ganzen Winter lang aus einem grossen Lautsprecher täglich die gleichen Wienerwalzer über die Köpfe der eislaufenden Gäste. Im Sommer fanden das internationale Tennisturnier, damals noch für Damen und Herren, sowie verschiedene Schwingfeste statt. Als Vorgänger zum heutigen Menuhin Festival gab es den Musiksommer im grossen Saal des Hotels Palace, unter der Leitung von Professor Hermann Scherchen.

Am 1. August fand jedes Jahr auf der Reichenbachmatte neben dem Tennisplatz eine grosse Feier mit Festrede und einer turnerischen Darbietung der Männerriege statt, die mit einer bengalisch beleuchteten Schlusspyramide endete. Ich war einmal ganz zuoberst mit zwei Schweizerfähnchen in den ausgestreckten Armen. Zuerst gab es aber immer den beliebten Fackelumzug für die Kinder, der beim Primarschulhaus in der Rütti begann und durch das ganze Dorf bis zum Festplatz führte.

Im Frühling und Herbst gab es die beliebten Alpauf- und -abzüge, bei denen die Bauern ihre mit Glocken behängten Kühe durch Gstaad führten. Diese Tradition war leider für eine Weile unterbrochen, ist aber jetzt wieder aufgenommen worden.

Nun, es hat sich seit Mitte der Fünfzigerjahre natürlich sehr viel verändert. Man baute eine riesige Anzahl Chalets, und vor allem im Dorf selbst kam es zu grossen Veränderungen. Hotels wurden abgerissen und neu wieder aufgebaut; dies gilt auch für viele Geschäftshäuser, die dasselbe Schicksal erlitten oder dann nur umgebaut oder einen neuen Anbau erhielten. Mit der Ausnahme von nur ganz wenigen Gebäuden – den Hotels Rössli und Olden oder dem Chalet Central – hat sich fast alles verändert, inklusive Bahnübergang der MOB, der früher ähnlich wie der Viadukt aussah, mit je zwei Bögen aus grauen Steinquadern, die meiner Ansicht nach jetzt viel besser zum «neuen» verkehrsfreien Gstaad passen würden.

Auch die Bräuche haben sich verändert. Wenn früher jemand starb, wurde er noch zu Hause aufgebahrt. Vom Domizil des Verstorbenen aus formierte sich dann ein Leichenzug, der den Toten bis zur Kirche von Saanen begleitete. Je nach Anzahl der Leute, die das letzte Geleit gaben, spekulierte man, wie bedeutend oder beliebt der Dahingegangene gewesen war. Ich sehe diese Trauerzüge noch vor mir, hauptsächlich die, die bei strömendem Regen stattfanden, und bei denen hinter dem vom Pferd gezogenen Leichenwagen schwarz gekleidete Dorfbewohner mit aufgespannten schwarzen Schirmen daherpilgerten. Dabei wurde darauf geachtet, was für einen neuen Hut diese oder jene getragen hatte, und man erzählt, dass bei solchen Anlässen diverse Geschäfte und Kuhhändel zum Abschluss kamen.

ANTON H. RUESCH

Wissen auch Sie noch Begebenheiten aus früheren Zeiten? Zögern Sie nicht, greifen Sie zur Feder und schreiben Sie uns: «Anzeiger von Saanen», Anita Moser, Redaktion, Kirchstrasse 6, 3780 Gstaad, oder per Mail: anita.moser@ anzeigervonsaanen.ch.


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