Handwerkliche Arbeit und Erziehung

  03.08.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER
Der grosse Vorläufer in der «Erziehung durch Arbeit oder Produktion» war, wie auch im Bereich der Selbstverwaltung und Kunst, der sowjetische Erzieher Anton Makarenko. In seinen Büchern «Der Weg ins Leben» – auch bekannt unter dem Titel «Ein pädagogisches Poem» – und «Flaggen auf den Türmen» berichtet er von seine erzieherischen Erfahrungen in den Wohngemeinschaften, die er in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts selbst gegründet und geleitet hat. Diese handwerkliche Arbeit, praktiziert in einer Reihe von Werkstätten, die schliesslich sogar eine kleine Fabrik zur Herstellung von Fotoapparaten und Bohrmaschinen umfasste, bildet eines der Hauptprinzipien seiner Erziehungsmethoden, die international grosse Beachtung fanden und noch heute Grundlage einer jeden fortschrittlichen Erziehung sind.

Auch in Tres Soles konzentrierte sich die Arbeit schon früh auf die Einrichtung von selbstverwalteten Werkstätten: eine Backstube, eine Schreinerei, eine Karten- und eine Schlüsselanhängerwerkstatt. Später kamen eine Nähwerkstatt und der Gemüse- und Obstgarten hinzu, der in gemeinschaftlicher Arbeit an den Wochenenden und während der Schulferien gepflegt wird. In diesen Werkstätten wird nicht nur zum Verkauf oder gegen Spenden «produziert», sondern auch für den eigenen Gebrauch. In der Schreinerei stellen die Jugendlichen ihre eigenen Möbel her, die sie mitnehmen können, wenn sie eines Tages aus der Wohngemeinschaft ausscheiden. An dieser Stelle muss sehr deutlich gesagt werden, dass es sich bei unseren Werkstätten keinesfalls um eine gewerbliche Produktion handelt, was den Verdacht auf Kinderarbeit entstehen lassen könnte. Ebenso wenig wird durch unsere «Produktion» die Finanzlast des Projekts getragen – wie uns schon von den Bürokraten im Jugendamt unterstellt und vorgeworfen wurde. «Wir hoffen, dass den Jugendlichen der gesamte beim Verkauf erzielte Erlös auch ausbezahlt wird», musste sich meine Frau Guisela anhören, die unentwegt mit den Behörden zugunsten unseres Projekts verhandeln muss und mehr als einmal die sprichwörtlichen Kohlen aus dem Feuer holen musste. «Das geht auf keinen Fall», erwiderte Guisela. «Wir müssen Material- und Transportkosten einrechnen und im Übrigen liegt keine gewerbliche Nutzung vor und unsere Werkstätten sind erst recht keine Werkstätten im üblichen Sinn …» – «Wie das?» – «Es sind schlichtweg Räume, manchmal noch nicht einmal das, sondern nur eine kleine Ecke in einem Zimmer, in denen oder in der man Platz geschaffen hat, um beispielsweise einige Nähmaschinen oder einen Tisch zum Basteln oder Malen aufzustellen.»

Sie erklärte dem offenbar Ahnungslosen – leider gibt es im Jugendamt wenig fachkundiges Personal, da die Stellen meistens «politisch» besetzt sind – den wichtigen Umgang mit Materialen wie Holz, Farbe, Stoff, Erde, Wasser und Mehl und deren Verwendung, wie es innerhalb der sogenannten Beschäftigungs- oder Ergotherapie in vielen sozialen und auch psychiatrischen Einrichtungen üblich ist. Lucio, unser Psychologe, schrieb in seiner Diplomarbeit, die ebenfalls bereits von mir angesprochen wurde, dass Arbeit aus erzieherischer Sicht und umsichtig angeleitet in Jugendlichen und sogar schon Kindern die «vortrefflichsten, dem gemeinsamen Wohl dienenden Kräfte» freisetzte und «einen auserordentlichen Einfluss auf die Bildung des moralischen Verhaltens» nehme. Schon Lucios Vorfahren, die alten Aymaras und Quechuas, waren der Meinung, dass, wenn Menschen in Frieden und Eintracht zusammenleben wollen, auch alle ihren Teil dazu beitragen müssen, unabhängig von Alter und Geschlecht. Sie alle gehen nämlich einer Beschäftigung nach, die ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entspricht sowie Zufriedenheit verschafft, die ihnen erst zur Wertschätzung durch die Gemeinschaft verhilft.

Für die Jugendlichen von Tres Soles ist die Mithilfe in den Werkstätten ab dem vierzehnten Lebensjahr obligatorisch. Sie müssen lernen, dass es ohne Pflichten auch keine Rechte gibt, dass man sich seine Wünsche erarbeiten muss. Diese schwer erziehbaren Jungen und Mädchen haben oft die Einstellung – woher sollten sie es auch besser wissen, wenn man sie es nicht lehrt? –, dass ihnen die Unterstützung der sozialen Einrichtungen zustünde, ohne dass sie auch nur einen einzigen Finger zu rühren bräuchten. Das schafft eine «Bettlermentalität» und eine Gleichgültigkeit, die verhindert, eigeninitiativ tätig zu werden, um ein lohnendes Lebensziel aufzubauen. Um diesem Irrtum entgegenzusteuern, erhalten die Jugendlichen für jedes Teil, das sie fertigen, ein kleines Taschengeld. Der Rest des Erlöses fliesst in das Projekt und ist ihr persönlicher Beitrag zum Erhalt des Gefüges, mit dem sie – freilich mehr oder weniger symbolisch, aber nichtsdestotrotz für den Lernprozess von grosser Wichtigkeit – allen Danke für die erhaltene Hilfe sagen. Folglich müssen die Jugendlichen von Tres Soles ihre Kleidung auch selbst kaufen, nämlich von ihrem in den Werkstätten verdienten Taschengeld. Es geht bei unseren Werkstätten jedoch nicht nur um Beschäftigungstherapie und das Taschengeld, wie man möglicherweise meinen könnte. In einem Land, in dem über 70 Prozent der städtischen Bevölkerung vom Schwarzmarkt lebt – das heisst, dass die Leute irgendetwas basteln oder herstellen und auf der Strasse verkaufen – ist es von äusserster Wichtigkeit, dass die Jugendlichen neben der Schulbildung ein Handwerk erlernen und mit möglichst vielen Materialien umzugehen wissen, um ihr späteres Überleben zu sichern, denn eine «richtige» Ausbildung garantiert hier noch lange keinen Arbeitsplatz!

Genau wie die Kunst und das Spiel ist auch die handwerkliche Arbeit von erzieherischem Wert, um die körperliche und geistige Entwicklung der Jugendlichen zu fördern, wie etwa Arbeitsdisziplin, Feinmotorik, Reinlichkeitsdenken, Ordnungssinn, Verantwortungsgefühl und Gruppenbewusstsein. Um grösstmögliche Wirkung zu erzielen, muss die Arbeit in den Werkstätten unter Einbeziehung unserer anderen Grundprinzipien «Selbstverwaltung» und «Kunst» erfolgen: Einerseits werden die Werkstätten von den Jugendlichen selbst organisiert und verwaltet, obwohl sie natürlich – gerade was den Gebrauch von Maschinen betrifft – von jemandem angeleitet werden müssen, andererseits sollen die Produkte auch eine gewisse Ästhetik besitzen, da dies zu unserem Kunstverständnis gehört. Ferner wollen wir nicht, dass die Kunden unsere Produkte aus Mitleid kaufen, sondern weil sie schön, praktisch und von guter Qualität sind. Vor allem die Werkstätten, die sogenannte «artesanías» herstellen, also Kunsthandwerk wie Karten, Nähprodukte und Schlüsselanhänger, verwenden nur hochwertiges Material, denn die Produkte sind regelrechte «Exportwaren», da sie vor allem an ausländische Besucher und an unsere Unterstützer in Europa verkauft werden. Für die Möbel, die nur für den Eigengebrauch bestimmt sind, verwenden wir ebenfalls nur Material von hoher Qualität, also massives Holz. In unserer «Möbelschreinerei» gibt es keine Einheitsproduktion, sondern jeder Jugendliche entwirft selbst gemeinsam mit Braulio, dem Verantwortlichen für die Schreinerei, sein Bett, seinen Tisch, seinen Stuhl und seinen Nachttisch und schreinert die Möbel nach seinen eigenen Vorstellungen.

In der Backstube wird ebenfalls auf Qualität geachtet. Die Verwendung von Vollkornmehl, Sojamilch und Eiern für Brot und Gebäck, das zum Frühstück und zum Tee am Nachmittag benötigt wird, kann die Ernährung der Kinder und Jugendlichen, von denen viele unterernährt zu uns kommen, entscheidend verbessern. In den nächsten Bolivienspalten werde ich ausführlich auf die einzelnen Werkstätten eingehen.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen.

Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4.

www.tres-soles.de


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