Wenn eine Velofahrt unerwartet zur Achterbahnfahrt wird, dann sind mit grösster Wahrscheinlichkeit die Speichen oder die Felgen dafür verantwortlich. Entweder hat eine Felge einen Randstein touchiert oder ein Schlagloch zu schnell durchquert und eine Acht eingefangen, oder dann haben sich zwei oder drei Speichennippel – die schraubbaren Verbindungen zwischen der Felge und den Speichen – gelockert. Wenn man mit dem Velo von der Achterbahn weg wieder auf gerade Bahnen kommen will, muss man das defekte Rad neu zentrieren. Manchmal empfindet man das Leben selbst aber als Achterbahnfahrt, obwohl das Velo schön spurgetreu fährt. Denn vielleicht hat das Schicksal unsanft zugeschlagen oder im Rad des Lebens hat sich irgendwo eine Schraube gelockert. So oder so muss in solchen Situationen auch das Leben neu zentriert werden, damit das Rad des Lebens wieder runder läuft.

Wer ein Velorad neu zentrieren will, braucht dazu normalerweise einen Speichenschlüssel und oft auch einen Zentrierständer. Um das Leben neu zu zentrieren, braucht es dagegen sehr oft nur die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern. Zum Beispiel weg von dem, was man gerne auch noch hätte, hin zu dem, was man schon hat; weg von dem, was man gerne wäre, hin zu dem, was man ist; weg von dem, was man alles nicht mehr kann und nicht mehr hat, hin zu dem, was man noch gut kann und hat.

Manchmal fährt das Leben mit einem auch Achterbahn, weil man so richtig «auf den Felgen» ist, weil man nicht in Form, ausgepumpt oder erschöpft ist und nur äusserst mühsam vorankommt. In solchen Fällen gelingt es nicht immer, das Leben selber neu zu zentrieren. Aber so wie es für schwierige Fälle überall gute Velomechaniker gibt, gibt es auch überall Fachpersonen, die gut zuhören und einem helfen können, das Leben neu zu zentrieren oder «dem Schicksal in die Speichen zu fallen».

Wer auf einer Tour mit dem Velo im Morast stecken bleibt, kann das Velo aus dem Dreck ziehen und es schultern. Man muss dem Velo nicht «in die Speichen greifen». Anders war es in früheren Zeiten für die Fuhrleute, wenn sie mit ihren Pferdewagen oder mit ihren Kutschen im Schlamm stecken blieben. Sie mussten jeweils absteigen, die Pferde antreiben und selber in die Speichen der Holzräder greifen. Oder wenn auf steilen Wegen die Gefahr bestand, dass die Wagen oder Kutschen zu schnell ins Rollen geraten, mussten die Fuhrleute den Rädern in die Speichen fallen, um eine unkontrollierte Fahrt zu verhindern. Diese Fuhrleute sah der Widerstandskämpfer und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer wohl vor sich, als er sich mitten im Krieg entschieden hatte, aktiv beim Attentatsversuch gegen Hitler mitzumachen. Seinen mutigen Schritt gegen die Nazis begründetet er nämlich mit den Worten: «Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.» Seinen Mut, nicht nur als Seelsorger Menschen zu trösten, sondern aktiv in das Geschehen einzugreifen und dem Rad der Nazis in die Speichen zu fallen, bezahlte er mit jahrelanger Gefängnishaft und kurz vor Kriegsende auch mit dem Tod.

Einem Velorad, das sich dreht, sollte man wegen der Verletzungsgefahr nicht in die Speichen greifen. Aber auf einer erfrischenden Velofahrt, wenn sich die Speichen ohne Probleme im Fahrtwind drehen, kann man sich ja vielleicht einmal fragen: Wo sollte ich dem Rad der Zeit einmal mutig in die Speichen fallen? Wo müsste ich mich ein bisschen mehr engagieren? Wo sollte ich mich für eine gerechte Sache oder unterdrückte Menschen einsetzen? Wo müsste ich ein bisschen mehr tun für den Schutz der Umwelt? Oder wie könnte ich in unserer Wohlstandsgesellschaft sichtbar machen, dass nichts einfach selbstverständlich ist – nicht einmal das Velofahren.

ROBERT SCHNEITER

«Anzeiger von Saanen» Leserreise 2019 – Velowoche plus
12. bis 19. Mai 2019 – Frühling in der Provence und Camargue Teilnehmende ohne Velo sind herzlich willkommen.