Der Sattel

  21.09.2018 Leserbeitrag

Velosättel, Throne und Chefsessel haben etwas gemeinsam: Auf allen sitzt man auf dem eigenen Hintern. Aber auf keinem kann das Sitzen so schmerzhaft sein wie auf einem Velosattel. Denn solange der Sattel nicht passt wie ein Paar Schuhe, drückt er immer wieder dort, wo er nicht drücken sollte. Die richtige Passform eines Sattels kann man zwar mit einer genauen ergonomischen Vermessung der Sitzknochen berechnen. Doch am Anfang einer neuen Velosaison oder auf den ersten Kilometern auf einem neuen Sattel drückt fast jeder Sattel ein wenig dort, wo er nicht drücken sollte. Auf dem Velosattel gilt darum oft das Motto: Wer Erfolg will, muss auch leiden können. Wer nicht bereit ist, auf dem Velosattel eine kürzere oder längere Leidensphase in Kauf zu nehmen, verpasst manche schöne Velotour oder vielleicht sogar die Tour de Suisse. Doch im Gegensatz zu diesem Schmerz, der nach einer Angewöhnungsphase meistens vergeht, sind die Erfolge und die Erlebnisse schöner Touren unvergängliche Erinnerungen. Wer jedoch nur selten oder nur ab und zu auf dem Sattel sitzt, muss in Kauf nehmen, dass der Hintern wohl während der ganzen Saison immer wieder ein bisschen weh tut – trotz Velohosen mit Polsterung.

Diese Berührungsschmerzen mit dem Velosattel können daran erinnern, dass auch zur ganzheitlichen Erfüllung des Lebens gewisse Leiden oder Schmerzen gehören. Denn es ist ein Irrtum zu meinen, erfülltes und sinnvolles Leben sei immer schmerzlos. Im Gegenteil, den wahren Reichtum des Lebens und das eigene Leben versteht man oft erst dann, wenn man auch die Tiefen und Abgründe des Lebens kennengelernt hat. «Leiden» heisst darum vielleicht ja nichts anderes, als ein tieferes Leben führen (Alexander Vinet).

So wie ein Velosattel und ein Mensch eine gewisse Zeit brauchen, um sich aneinander gewöhnen zu können, so müssen auch Menschen die nötige Geduld aufbringen, um sich aneinander zu gewöhnen, wenn sie ein gemeinsames Ziel erreichen wollen.

Im Gegensatz zum Alltag gehen Radrennfahrer meistens nur in den steilsten Aufstiegen und in der Sprinterposition aus dem Sattel. Im Alltag geht man viel zu oft aus dem Sattel. Unter Zeitdruck sprintet man von Termin zu Termin, von Event zu Event, vom einen Ort zum andern. Und damit man schneller am Ort ist, nimmt man das Auto und nicht das Velo. Der Velosattel ist darum im Alltag so etwas wie ein Pausenzeichen und erinnert immer wieder daran, sich hinzusetzen und sich eine Pause zu gönnen. Pausen sind die kleinen Zeitoasen, in denen man warten kann, bis die Seele einen wieder eingeholt hat (nach einer indianischen Weisheit). Ein Sprichwort sagt: Was nicht rastet und nicht ruht, tut in der Länge nicht gut. Wer regelmässig Ruhetage geniesst oder Pause macht, hat nicht nur mehr vom Leben, sondern kann auch besser zuhören. Denn für ein gutes Gespräch mit Menschen, die man mag oder die einem etwas zu sagen haben, sind die Redepausen wichtiger als das pausenlose Reden. Auch in der Musik sind Pausen in einem doppelten Sinn wichtig: Nur wenn man wirklich Pause macht und sich hinsetzt, kann die Musik den Staub von der Seele wischen und das Leben erfrischen. Und nur wenn die Musiker die Pausen auf dem Notenblatt einhalten, wird die Musik zum wahren Genuss.

ROBERT SCHNEITER


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