Die gespenstische Sehnsucht nach dem Autoritären

  28.09.2018 Leserbeitrag

«Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus», schrieb einst der italienische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi, der das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatte. Die frühere US-Aussenministerin Madeleine Albright hat dieses Zitat ihrem kürzlich erschienenen Buch «Faschismus – eine Warnung» vorangestellt. Sie analysiert den Vormarsch rechtsradikaler, autoritärer, antidemokratischer Kräfte und weist eindrücklich nach, welche Ähnlichkeiten viele dieser Parteien und Bewegungen mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts haben. Ob die AfD in Deutschland, die Lega in Italien, das Rassemblement National in Frankreich, die FPÖ in Österreich und andere: Sie alle haben – neben der EU- und Ausländerfeindlichkeit – weitere Gemeinsamkeiten. Der amerikanische Historiker und Faschismusforscher Robert Paxton schreibt, dass in allen ihren Programmen und Stellungnahmen «Themen des klassischen Faschismus nachklingen»: «Furcht vor Dekadenz und Verfall, Streben nach Stärkung nationaler und kultureller Identität, Warnung vor einer Bedrohung der nationalen Identität und der sozialen Ordnung durch nicht assimilierbare Fremde und das Bedürfnis nach grösserer Autorität, um mit all diesen Problemen fertig zu werden.»

Ein Blick auf Europa zeigt in dieser Hinsicht ein besorgniserregendes Bild. In Polen und Ungarn sind autoritäre Regierungen an der Macht, und sie bauen den Staat entsprechend um. Grundrechte und Gewaltenteilung werden zurückgefahren, die Meinungsfreiheit eingeschränkt, die Arbeit von Medien teilweise behindert. In Österreich und Italien sind rechtsradikale Parteien an der Regierung beteiligt. Starke rechtsextreme Gruppierungen gibt es auch in Belgien und den Niederlanden. Und die einst stabilen Demokratien Skandinaviens befinden sich ebenfalls auf dem Marsch nach rechts. In Norwegen, Finnland und Dänemark sind die Rechtspopulisten bereits seit längerer Zeit stark. Und Anfang September haben die rechtsradikalen Schwedendemokraten bei den Wahlen kräftig zugelegt. Die Partei hat faschistische Wurzeln, auch wenn sie sich heute moderater gibt und vom Extremismus distanziert. Sie wurde Ende der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts gegründet, mit dabei waren auch Neonazi-Gruppen und ein ehemaliges Mitglied der SS.

Selbst in Deutschland verschlechtert sich die politische Grosswetterlage: Bisher war der Rechtsradikalismus auf Bundesebene ein ausserparlamentarisches Randphänomen. Doch seit 2017 sitzt die AfD mit 92 Abgeordneten im Deutschen Bundestag, eine Partei, die Mühe bekundet, sich vom Extremismus abzugrenzen. Sie demonstriert in Chemnitz, dass sie rechtsextreme Gewalt auf der Strasse zu propagandistischen Zwecken auszunutzen bereit ist. Etwa, indem der AfD-Ko-Vorsitzende Alexander Gauland die Ausschreitungen als Akt der «Selbstverteidigung» bezeichnet. So sind jeweils auch faschistische Organisationen vorgegangen.

Die Gründe für diese Entwicklung? Immer wieder wird gebetsmühlenartig auf die Ängste grosser Teile der Bevölkerung vor der Migration hingewiesen – obschon längst ganz Europa und alle Regierungsparteien von links bis rechts eine Politik der Abschreckung und Abschottung gegenüber Flüchtlingen und Migranten betreiben. Trotzdem hält der Trend nach ganz rechts an. Vielleicht sollte man damit aufhören, die Wählerinnen und Wähler dieser Parteien als angstgetriebene, frustrierte Wesen zu sehen, die aus purer existenzieller Verzweiflung und aus Protest dem Rechtsradikalismus hinterherlaufen. Vielleicht sollte man weniger ihre Ängste als ihre Absichten ernst nehmen und – wie man es in einer Demokratie voraussetzen muss – sie als mündige Bürgerinnen und Bürger betrachten. Denn vielleicht wissen viele von ihnen ganz genau, was sie tun. Vielleicht halten sie tatsächlich nicht mehr viel vom derzeitigen politischen System. Vielleicht pfeifen sie tatsächlich auf humanistisch-liberale Werte und auf den demokratischen Grundkonsens. Und vielleicht wollen sie tatsächlich einen autoritären Staat, der rücksichtslos durchgreift. Sollte es dereinst wirklich so weit kommen, merken viele, die jetzt mitlaufen, wohin das führt; aber vielleicht ist es dann zu spät. Sie bringen dann ihre autoritären Politiker wohl nicht mehr so elegant mit dem Wahlzettel weg – weil die Demokratie, wie wir sie heute kennen, dann auch weg ist. Dass dies nicht nur ein unscharfes Gespenst an einem fernen Horizont ist, zeigt ein in diesem Monat veröffentlichter Bericht des EU-Parlaments, der eine «systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn» konstatiert.

JÜRG MÜLLER
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