Ist die Umwelt wichtiger als die Migration?

  04.09.2018 Saanen

Am «Forum für Glaube und Kultur» wurde über die Migration, die Umwelt und die Religion diskutiert. Die spannenden Diskussionen regten zum Nachdenken an.

BLANCA BURRI
Die Macher hinter dem «Forum für Glaube und Kultur» haben sich viel vorgenommen. Sie möchten einen Anlass auf die Beine stellen, bei dem namhafte Persönlichkeiten über wichtige Glaubens- und Kulturfragen diskutieren und die danach ein gemeinsames Empfehlungsschreiben unterzeichnen. Auf dieses könnten sich offizielle Gremien bei weiterführenden Diskussionen berufen. Im dritten Jahr des «Forums» wurden einige Ziele erreicht, andere noch nicht.

Verschiedene Blickwinkel
Christina Aus der Au, theologische Geschäftsführerin am Zentrum für Kirchenentwicklung der Universität Zürich, definierte bei der ersten Statementrunde das Thema «Erneuerung der Gesellschaft an Haupt und Gliedern». Es sei nicht, wie man glauben könnteb ein rein reformatorischer Gedanke. Denn im 12. Jahrhundert habe der Papst diesen Ausdruck verwendet, um seine Teilkirchen in den Griff zu kriegen. Das habe damals geheissen, dass der Papst diese Erneuerung in Angriff nahm, um mehr Kontrolle über die Untergebenen zu erhalten.

Der Parteipräsident der CVP und Nationalrat Gerhard Pfister sagte, dass es im Moment keine Erneuerung braucht, denn man befinde sich bereits in einem enorm schnellen Wandel, in dem sich die Rolle Europas massiv verändere. Für die Schweiz, die noch nie so sicher und wohlhabend gewesen sei wie heute, heisse das, dass es wahrscheinlich nicht weiter nach oben gehe. «Die Gewichtung verschiebt sich definitiv vom Atlantik weg Richtung Pazifik.» Die Schweizer hätten Mühe mit dieser Entwicklung und man sei bemüht, die Schweiz so zu erhalten, wie sie ist.

Katja Gentinetta, politische Philosophin, wies auf grosse Veränderungen in der jüngeren Geschichte hin: Der Mauerfall 1989, 9/11, die Finanzkrise 2008 und die Flüchtlingskrise 2015. Sie alle hätten zu einer grossen Verunsicherung geführt. «Das hat viele Fragen aufgeworfen und deshalb wissen wir nicht mehr, auf welche Werte wir uns besinnen müssen.» Auf die Frage, ob man eine Erneuerung der Gesellschaft brauche, meinte sie: «Jein, Ich glaube, dass wir eher auch zurückkommen können auf Normen und Werte, die sich bewährt haben und auf die wir uns besinnen müssen.»

Ohne Doktortitel
Der Autor Thomas Meyer setzte am vergangenen Samstagmorgen im Landhaus Saanen einen Kontrapunkt. Der Autor von «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» bekannte sich als Erstes dazu, dass er auf der Bühne der Einzige ohne Doktortitel sei und lockerte so die Stimmung um das ernste Thema sofort auf. Er witzelte, dass das auch der Grund sei, wieso er immer als Letzter an die Reihe komme. Aus seiner Sicht sei die Erneuerung im Denken und im Handeln unbedingt nötig, und zwar im Hinblick auf den Umgang mit der Natur und der Umwelt. «Wie wir mit der Natur umgehen, ist rücksichtslos und zum Teil bösartig.» Er glaubt, dass dieses Thema viel prioritärer anzugehen ist als die Gesellschaftsform oder Migration.

Erfolgsmodell Schweiz
Die vier Podiumsteilnehmer diskutierten im Anschluss unter der Führung von Nobert Bischofberger, Redaktor beim SRF, spannend über Migration, Umweltfragen und Religion. Obwohl die Referenten einen unterschiedlichen Hintergrund haben, wurden alle Regeln der Diskussion immer eingehalten. Man liess sich ausreden und wartete auf das Zeichen des Moderators, bevor man seine Meinung kundtat. Gerhard Pfister fand, dass Deutschland bei der Migration vom Schweizer System einiges abschauen könnte. Obwohl die Schweiz einen sehr hohen Ausländeranteil hat, habe sie im Verhältnis wenig Probleme mit ihnen. Durch die gelebte Integration könnten viele schwierige Situationen vermieden werden. Mehrere Votanten aus dem Publikum befürworteten, dass in den Herkunftsländern ökonomisch mehr unterstützt werden soll, damit die Bewohner in ihrem Land bleiben können, statt nach Europa auszuwandern. Thomas Meyer fand, dass es doch an der Zeit sei, nicht nur von Integration, sondern vielmehr von einem friedlichen, liberalen Nebeneinander zu sprechen. Damit waren die anderen nicht einverstanden. Sie denken, dass das Schweizer Erfolgsmodell so in Gefahr geraten würde.

Lange wurde über das Flüchtlingsjahr 2015, als Angela Merkel sagte «Wir schaffen das!» und die Grenzen öffnen liess, diskutiert. Gerhard Pfister kritisierte das Verhalten von Merkel. Christina Aus der Au nahm sie in Schutz. Obwohl der Ausspruch und die Folgen davon politisch unklug gewesen seien, zeigten sie doch sehr viel Menschlichkeit. «Das schätze ich an ihr.»

Ein Flug statt ein Jahr Auto fahren?
Bei der Diskussion um die Umwelt outete sich Thomas Meyer als Veganer, der nur bei den Schuhen eine Ausnahme von der Regel macht. Es sei wichtig, immer wieder über Umweltfragen zu diskutieren. Er erzähle jedem, dass eine Ferienreise mit dem Flugzeug gleich viel CO2 ausstosse wie ein ganzes Jahr Auto fahren. Deshalb verzichte er so weit wie möglich darauf. «Meine künftige Frau und ich gehen deshalb in den Flitterwochen statt nach Japan auf einen Roadtripp.» Gerhard Pfister denkt aber, dass das Umdenken in der Bevölkerung nur dann stattfinden wird, wenn es ökonomische Anreize gibt. Einige Diskussionsteilnehmer hatten das Gefühl, die Schweiz verhalte sich im Vergleich zu anderen Ländern sehr umweltfreundlich. Von den Umweltschäden, welche durch die Herstellung der Importprodukte in die Schweiz entstehen, äusserte sich niemand.

Friedliches nebeneinander
Die vier Diskutierenden setzten sich alle für die freie Glaubenswahl ein. Sie hielten aber fest, dass man immer Christ, Jude etc. bleibe, wenn man so aufgewachsen sei. Diese Prägung sei so tief verankert, dass sie schwierig abzulegen sei. Wichtig sei es, sich den Werten und Regeln des Landes anzupassen, in dem man lebe.

Erfolgreiche Integration
Im Anschluss an die Diskussion gab es Zeit für Anregungen aus dem Plenum. Unter anderen äusserte sich der pensionierte Pfarrer Morrisson. Er sprach beim Thema Migration aus eigener Erfahrung. Wegen seiner ausländischen Herkunft sei sein Kind manchmal gehänselt worden. Er selber sei inzwischen schon lange eingebürgert. Er habe das Gefühl, dass er viel für die Gesellschaft gemacht habe, und meinte damit indirekt, dass es sich gelohnt habe, ihn als Schweizer aufzunehmen.

Gemischtes Fazit
Ob das «Forum für Glaube und Kultur» nächstes Jahr wieder stattfindet, lies der Präsident Edwin Oehrli noch offen, als ihn diese Zeitung darauf ansprach. «Erst müssen wir Bilanz ziehen.»

Während die Diskussion hochstehend und spannend war, konnte das Forum noch nicht erreichen, dass ein gemeinsames Statement verfasst und unterzeichnet wurde. Auch haben sich die Verantwotlichen etwas mehr Interessierte erhofft. Nächstes Jahr soll deshalb ein anderes Datum ins Auge gefasst werde, wenn weniger konkurrierende Grossanlässe in der Region stattfinden.


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