Antonia Rodriguez und die Kunsthandwerkgenossenschaft «Señor de Mayo»

  12.10.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER

Teil 2

Mit dem letzten Artikel (siehe AvS vom 21. September) habe ich die Reihe über unsere «Werkstätten» eröffnet, die als Erziehungsinstrument nach Bakunin dienen, und als erstes Beispiel war von unserer Nähwerkstatt die Rede und wie wir uns einer Kunsthandwerkgenossenschaft angeschlossen hatten, um unsere Produkte verkaufen zu können. Die Kooperative heisst «Asociación Artesanal Boliviana Señor de Mayo» und wurde in El Alto im selben Jahr gegründet wie «Tres Soles», nämlich 1989. Diese Kooperative existiert heute noch und ist unauslöschlich mit Antonia Rodriguez verbunden, einer kleinen Frau mit den Gesichtszügen der Indianerfrauen des Hochlandes und mit nur so vor Energie sprühenden Augen. «Wenn ihr eure Produkte verkaufen wollt, müsst ihr erst einmal die Qualität verbessern», war das Erste, was sie zu mir sagte, als ich sie in der Kooperative, eigentlich nur einem Wellblechschuppen mit ein paar Nebenräumen, aufsuchte, um ihr ein paar Muster aus unserer Nähwerkstatt zu zeigen. Wir hatten angefangen, aus den traditionellen «Aguayos» – den rechteckigen Schultertüchern, in denen die indigene Bevölkerung auf ihrem Rücken alles schleppt, auch ihre Kinder – Taschen und Rucksäcke zu nähen.

Meine Frau Guisela machte, wie ihr geraten worden war, einen Nähkurs, und wir wurden in die Kooperative als Produktionsgruppe «Strassenkinder» aufgenommen. Zum damaligen Zeitpunkt arbeiteten wir vor allem mit Kindern und Jugendlichen, die direkt von der Strasse zu uns kamen. Die Kooperative wird gemeinschaftlich organisiert und ist gleichzeitig auch auf den Markt ausgerichtet, der erstklassige Produkte und pünktliche Ablieferung verlangt. Die Kooperative kauft den verschiedenen Gruppen ihre Produkte ab und exportiert sie. Vom Gewinn werden in grossen Mengen und daher günstig Material und Lebensmittel eingekauft und an die Gruppen verteilt. Hinter allem wirkt unermüdlich Antonia, drängt darauf, ständig die Qualität zu verbessern und die Liefertermine einzuhalten. Sie knüpft Kontakte zu Organisationen im Ausland, vor allem zu Ketten wie Eine-Welt-Läden in Europa, Asien und Nordamerika, welche gerechte Preise bezahlen. «Ich wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Potosí geboren», erzählte sie mir eines Tages bei einer Tasse Kokatee. Obwohl sie immer beschäftigt war und herumschwirrte wie eine Biene, nahm sie sich immer Zeit, mit den Leuten einen Tee zu trinken und mit ihnen ein wenig zu plaudern, wenn sie in die Kooperative kamen. «Weisst du, vor 50 Jahren gab es für Mädchen auf dem Land kaum die Möglichkeit, in die Schule zu gehen. Sie mussten der Mutter helfen und jung heiraten, ein anderes Lebensziel gab es für Mädchen damals nicht.»

Sie hielt die Tasse mit dem heissen Tee mit beiden Händen umklammert, um sich daran zu wärmen. In El Alto, auf einer Höhe von über 4000 Metern, gibt es keinen Sommer. Es ist immer kalt und Heizungen gibt es nicht. «Mit zehn Jahren wurde ich in die Stadt Potosí gebracht und musste als Hausangestellte arbeiten wie so viele andere Mädchen, ohne schreiben und lesen zu können und ohne auch nur annähernd fehlerfrei Spanisch sprechen zu können.»

«Und wie hast du es geschafft, all das dennoch zu lernen?», fragte ich und blickte auf ihren Bürotisch in der Ecke, auf dem sich Verträge, Korrespondenz und Rechnungen stapelten.

«Ich habe es auf eigene Faust gelernt, bin in Abendschulen und in Kurse gegangen, obwohl ich, sehr jung verheiratet, schon Kinder hatte. Mit meinem Mann bin ich dann nach La Paz gezogen, um bessere Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Das war eine ganz schwierige Zeit, das kannst du mir glauben.»

«Du hast mir mal erzählt, dass du damals wegen der andauernden Arbeitslosigkeit begonnen hast, Kunsthandwerk herzustellen – in einer Müttervereinigung, die ein Pfarrer organisiert hatte …»

«Ja, Stricksachen aus Alpacawolle, die im Ausland in Mode kamen. Der Pfarrer war ursprünglich ein Schweizer und verkaufte die Pullover in der Schweiz zu besseren Preisen, als wir es hier hätten tun können. Nach ein paar Jahren stellte mich eine Organisation ein, damit ich in El Alto die Mitglieder anderer solcher Müttervereinigungen im Stricken ausbildete. Es wurde eine Art Gewerkschaft von ‹Artesanía-Herstellern› gegründet, denn viele der Frauen wurden diskriminiert. Mit ihnen, ungefähr 60 an der Zahl, gründete ich einige Jahre später die Kooperative.»

Das Gespräch wurde immer wieder unterbrochen von Mitgliedern der Kooperative, die ein neues Produkt zeigen oder auch einen Scheck abholen wollten. «Als ich begann, anstatt mit Bargeld zu bezahlen, Schecks auszustellen, haben sich erst viele geweigert, diese anzunehmen», lachte sie, während tausend Fältchen in ihrem Gesicht spielten. «Sie wollten bares Geld und misstrauten diesem Papierwisch mit Unterschrift zutiefst.»

«Das kann ich mir gut vorstellen …, aber erzähl mir jetzt doch noch, wie du selbst ausländische Abnehmer für deine Waren gefunden hast, um die Produkte zu verkaufen.»

«Auch das war natürlich nicht einfach. Wir belagerten stundenlang die Hotels und Touristenläden im Zentrum von La Paz und verteilten Muster und improvisiertes Werbematerial. So bekamen wir Kontakt zu einigen wichtigen Eine-Welt-Handelsketten. Wir hatten dabei natürlich auch viel Glück, das muss man schon sagen.»

Heute hat die Kooperative über 300 Mitglieder, verteilt auf 18 Arbeitsgruppen im ganzen Land, und macht einen Umsatz von einer halben Million Dollar, was in Bolivien eine enorme Summe ist. Es gibt auf dem Altiplano ganze Dörfer, die an der Produktion von Alpaca- und Lamawolle arbeiten, damit die Näherinnen, Strickerinnen und Weberinnen ihr Rohmaterial haben. Diese Gruppen setzten sich vor allem aus Frauen mit kinderreichen Familien aus den Randvierteln von El Alto und La Paz zusammen, denn so können sie zu Hause arbeiten.

Es werden auch Holzwaren hergestellt, zum einen von einer Behindertengruppe, zum anderen von einer Häftlingsgruppe im Gefängnis. In Cochabamba werden Musikinstrumente und Keramik produziert. Antonia reist auf der halben Welt herum, um auf Messen bolivianische Produkte vorzustellen und sich an Foren und Kongressen für gerechten Handel einzusetzen. Sie war Stadträtin von El Alto und sogar Produktionsministerin im Kabinett des ersten indigenen Präsidenten Evo Morales. Sie blieb sich jedoch immer treu, blieb bescheiden und lädt Besucher nach wie vor zu einer Tasse Kokatee ein, manchmal sogar zu einem Stück Quinoa-Auflauf, ihrer Lieblingsspeise, und lässt es sich nicht nehmen, mit ihnen ein wenig zu plaudern.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4.

www.tres-soles.de


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