Seidenstrasse – wenig Romantik, aber viel Potenzial

  26.10.2018 Leserbeitrag

Seidenstrasse – das tönt romantisch. Die Karawanenrouten verbanden über Jahrhunderte China auf dem Landweg über Zentralasien mit dem Mittelmeerraum. Die historische Seidenstrasse verlor allerdings ab dem 14. Jahrhundert an Bedeutung. Der Handel auf dem Seeweg wurde attraktiver, die Landverbindung durch die unwirtlichsten Gegenden der Welt, durch Wüsten und über Hochgebirgspässe geriet zunehmend ins Hintertreffen. Romantisch war die Seidenstrasse also nie – und Chinas Grossprojekt der neuen Seidenstrasse ist es erst recht nicht. Auch wenn Chinas Staatschef Xi Jinping 2013 das Vorhaben bei einer Präsentation in blumigmythische Bilder kleidete: «Wenn ich an die Glanzzeiten der Seidenstrasse zurückdenke, dann kann ich das Echo der Kamelglocken hören, wie es von den Bergen hallt, sehe die Rauchschwaden der Feuer, die Händler nachts in der Wüste entfachen.»
Kamele und Lagerfeuer gehören allerdings nicht mehr zur Infrastruktur des neuen, gigantischen Seidenstrassenprojekts. Heute geht es um Expressstrassen, Eisenbahnlinien, Hochgeschwindigkeitszüge, Pipelines, Stromleitungen, Telekommunikationsnetze, die von China über Zentralasien bis nach Europa und Afrika gebaut werden sollen. Auch Logistikzentren, See-, Fluss- und Flughäfen sind geplant. Über 60 Länder wollen sich an der Auferstehung der berühmtesten Handelsroute der Welt beteiligen. Rund eintausend Milliarden Dollar sollen investiert werden. China will die Hauptlast tragen, vergibt Kredite – und setzt sich überall fest.
China hat mit diesem Vorhaben der Superlative eine grosse wirtschaftliche Dynamik entfacht. Dabei entstehen insbesondere durch Kreditvergaben auch starke Abhängigkeiten. Beispiel Sri Lanka: Das Land hat sich mit dem Bau eines Hafens so stark verschuldet, dass der Hafen nun für die nächsten 99 Jahre China überlassen werden muss. Peking will sich mit dem Seidenstrassen-Projekt neue Märkte erschliessen, und zwar meist ziemlich einseitig zu seinen Bedingungen. Gleichzeitig verfolgt China nicht nur wirtschaftliche Interessen: Über ökonomische Abhängigkeiten werden auch sicherheitspolitische Ziele anvisiert. Chinas politisches Modell dagegen ist für andere Länder wenig attraktiv, und deshalb steht der Export des Staats- und Gesellschaftssystems nicht im Vordergrund.
Das Seidenstrasse-Projekt ist, wenn man so will, das umgekehrte Modell der im 17. Jahrhundert entstandenen Ostindischen Kompanien verschiedener europäischer Mächte, etwa der Briten und der Niederländer. Diese Handelsbeziehungen mit Ostasien, China und Indien wurden natürlich zu den Bedingungen der jeweiligen europäischen Macht abgewickelt. Zur Durchsetzung ihrer Handelsinteressen setzten die Europäer sowohl diplomatische wie militärische Mittel ein.
Solche riesigen Handelsprojekte haben immer auch geopolitische Dimensionen und bergen erhebliches Konfliktpotenzial; das zeigte die Vergangenheit und das ist auch jetzt zu erwarten. Doch sie bieten auch grosse Chancen. Experten gehen davon aus, dass sich der Handel zwischen der EU und China in den kommenden zehn Jahren stark entwickeln wird. Bereits heute hat dieser mit China, Südkorea und der Mongolei einen Umfang von rund 770 Milliarden Euro und ist damit fast gleich gross wie jener mit Nordamerika (USA, Kanada, Mexiko). Der Ausbau der Eisenbahnnetze über die riesige Landmasse hinweg brächte wohl auch ökologische Vorteile. Heute läuft der Handel zwischen Europa und Ostasien fast vollständig auf dem Luft- und Seeweg, was bekanntlich eine massive CO2-Belastung mit sich bringt. Eine klug konzipierte Schieneninfrastruktur brächte nicht allein der Umwelt etwas, die Bahn ist auch schneller als der Schiffs- und kostengünstiger als der Lufttransport. Europa könnte also China und seinem Seidenstrassenvorhaben von Westen her «entgegengehen» und möglichst viele Teilprojekte koordinieren – und vor allem darauf achten, dass auch die «am Weg» liegenden zentralasiatischen Länder und ihre Bevölkerungen profitieren, wirtschaftlich, aber auch zivilgesellschaftlich und menschenrechtlich.

JÜRG MÜLLER
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