«In Sachen Positionierung hat die Region Grossartiges geleistet»

  16.11.2018 Tourismus

Martin Nydegger glaubt als Direktor von Schweiz Tourismus an die Zukunft des Bergtourismus. Das Bedürfnis der potenziellen Schweizer Gäste, in der Zwischensaison für ein paar Tage in die Berge zu reisen, sei vorhanden.

BLANCA BURRI

Martin Nydegger, Schweiz Tourismus hat seinen Hauptsitz in Zürich, also drei Bahnstunden von Gstaad entfernt. Wie gut kennen Sie das Saanenland?
Als Berner kenne ich Gstaad und seine Umgebung als touristisches Juwel des Berner Oberlands natürlich gut. Als Kind war ich für viele Jahre in Schönried im Skilager und habe dort viele herrliche Jugenderinnerungen gesammelt.

Gab es auch berufliche Berührungspunkte?
Ja, ich durfte vor einigen Jahren ein Projekt im Bereich «Produktentwicklung Enjoy Switzerland» sehr eng begleiten und war während dieser Zeit oft und gerne im Saanenland. Zusammen mit Schweiz Tourismus bin ich immer wieder im Saanenland: zuletzt vergangenen März, für den «Snow Travel Mart Switzerland».

Sie haben viele Jahre im Engadin gearbeitet. Was unterscheidet das Engadin im Wesentlichen vom Saanenland?
Topografisch sind die Unterschiede am offensichtlichsten, weil beide Talschaften anders liegen und aussehen. Und dies ist gleichzeitig der grösste und schönste Vorzug der Schweiz. Kein Tal gleicht dem anderen, kein Dorf sieht aus wie das nächste. Gstaad-Saanenland hat sich über die Jahre ein Renommee erarbeitet, worum es vielerorts beneidet wird. Im Bereich Biking hat vermutlich das Engadin die Nase vorn, im Bereich Natur und Lifestyle sind die Gstaader führend.

Das Bündnerland hat in den letzten Jahren 30 % aller Logiernächte verloren. Was hat man falsch gemacht?
Es waren die Rahmenbedingungen, die unseren gesamten Schweizer Tourismus hart getroffen haben in den letzten Jahren, unter denen Graubünden in besonderem Ausmass gelitten hat.

Was sind die Hauptgründe?
Mit dem starken Franken blieben sehr viele Gäste aus Europa aus. Und unsere europäischen Gäste lieben generell die Berggebiete und im Speziellen das Bündnerland. Bleiben sie weg, wird es schwierig, besonders für Graubünden. Mit der aktuellen Erholung der Eurozone sehen wir hier nun Licht am Horizont, wenn auch der Weg zurück zu den Zahlen von vor 2008 noch weit und steinig ist.

In der Hauptsaison platzt das Saanenland manchmal fast aus allen Nähten. Was unternimmt Schweiz Tourismus, um auch die Nebensaison zu beleben?
Wir sind in vielen Bereichen aktiv. Den Frühling bewerben wir zum Beispiel gezielt in Indien, denn Inder reisen im Frühling sehr gerne. Neu ist der Herbst nicht mehr am Sommer angehängt, sondern wir positionieren ihn als eigenständige Saison. Dazu haben wir zum Beispiel auf unserer Homepage Angebote geschaltet, welche den Bedarf von spontanen und kurzen Ferien in den goldenen Herbst abdeckt. Unter dem Motto «Wecke deine Sinne» haben wir darauf geachtet, Sonne, Herbstlaub und Traditionen in der Werbung für den Herbst einzubauen.

Ist das Bedürfnis für Bergausflüge in der Zwischensaison gegeben?
Unsere Analysen zeigen klar auf, dass das Bedürfnis nach Kurzferien in die Berggebiete zunimmt. Vor allem im September und Oktober möchten viele Schweizer Touristen ein paar Tage in die Berge fahren.

Und im Frühling? Wer möchte schon in die Berge reisen, wenn hässliche Schneeflecken die braunen Wiesen überdecken? Die Bergregionen haben gegenüber von lieblichen Frühlingsblumen am See doch keine Chance, oder?
Das stimmt überhaupt nicht! Unsere Berggebiete brillieren mit entspanntem Frühlingsskifahren, vor allem bei so traumhaften Verhältnissen wie im letzten Winter. Und etwas später folgt der herrlich frische Bergfrühling. Das Ferienland Schweiz bietet für jeden und jede etwas: seien es nun Wintersportfanatiker oder Natur- und Wanderfans.

Was müssen die Bergdestinationen bieten, damit die Leute kommen?
Längere Öffnungs- und Betriebszeiten, zielgruppenspezifisches Marketing und Herbstangebote mit Preisvorteilen: Die Tourismusbranche in Berg und Tal hat das Potenzial des Herbsts erkannt und dafür passende Produkte entwickelt. So inspirieren 27 regionale Ferienideen auf unserer Website zum spontanen Kurztrip in acht Regionen der Schweiz.

Wie gut macht das Saanenland seine Sache?
In Sachen Positionierung hat die Region Grossartiges geleistet. Man weiss, wofür Gstaad-Saanenland steht. Eine Errungenschaft, die viele Schweizer Destinations-Marketing-Organisationen noch nicht erlangt haben. Zudem hat das Saanenland die Authentizität bewahrt und lebt diese Harmonie von «Premium und Bodenständigkeit» beeindruckend.

Wo hat das Saanenland noch Luft nach oben?
Vermutlich dort, wo viele andere Destinationen auch noch Verbesserungspotenzial aufweisen. Ich bin beispielsweise der festen Überzeugung, dass wir die Ferienaufenthalte unserer Gäste deutlich vereinfachen müssen. Das Schlüsselwort heisst «Convenience» – eine deutsche Übersetzung gibt es dafür leider nicht konkret.

Was meinen Sie mit «Convenience»?
Ferien in der Schweiz müssen für unsere Gäste so bequem wie möglich sein. Der Transport des Gepäcks vom Flughafen direkt zum Hotel beispielsweise sollte die Gäste nicht belasten, der Transfer zur Talstation und zurück muss flexibel und bequem, die Tischreservation für den Lunch im Skigebiet einfach möglich sein.

Im Moment ist das Zauberwort «Kooperation» in aller Munde. Wo macht sie Sinn?
Kooperationen finden idealerweise sowohl horizontal statt, also beispielsweise zwischen Hotels, als auch vertikal, z.B. zwischen Hotels und Bergbahnen. Ich bin überzeugt, dass die Touristiker im Saanenland hier Lösungsansätze und innovative Produkte entwickeln.

Wie lebt Schweiz Tourismus diesen Kooperationsgedanken?
Schweiz Tourismus hat keine eigenen Produkte. Er ist der Bilderrahmen für die Produkte all unserer Leistungsträger und somit leben wir Kooperation. Wir arbeiten nicht nur mit den Leistungsträgern und Partnern, sondern auch mit vielen Verbänden. Durch unsere 32 Büros, viele davon im Ausland, haben wir viele Partnerschaften mit Medien, Tour Operators und vielen mehr.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung im ganzen Prozess?
Digitalisierung ist Realität und der Gast steht im Zentrum aller unserer Aktivitäten. Diese Erkenntnis wirkt handlungsanleitend im Tourismus. Die Tourismusorganisationen und Leistungsträger «an der Front» kennen diese Realität und arbeiten danach. Als nationale Marketingorganisation ist es, wie bereits erwähnt, nicht die Aufgabe von Schweiz Tourismus, hier Rezepte vorzugeben.

Wie unterstützt Schweiz Tourismus die Bergregionen im Entwicklungsprozess?
Wir unterstützen zum einen bei der Produktentwicklung, wo wir gemeinsam mit unseren Partnern in der Branche Gästebedürfnisse identifizieren und Innovationen umsetzten. In unserem Marketing fokussieren wir uns auf die Schweiz und die europäischen Märkte, da sie nicht nur als grösste Märkte für die Schweiz allgemein gelten, sondern auch als grösste Herkunftsgebiete im Bergtourismus. Zudem konzentrieren wir uns z.B. in Asien auf die Individualreisenden, die neben den bekannten Destinationen ihnen noch weniger geläufige kleine Seitentäler entdecken möchten.

Wie geht es dem Bergtourismus in fünf Jahren?
In fünf Jahren bewegen wir uns im Berggebiet wieder um die Erfolge von vor 2008: Unsere europäischen Gäste haben nach vielen Jahren ohne Schweiz-Ferien den Weg ins Ferienland Schweiz wiedergefunden. Bei den einheimischen Gästen sind die Bergregionen auch in fünf Jahren noch hoch im Kurs, möglicherweise gar noch etwas mehr. Angesichts der neuen heissen Sommermonate suchen immer mehr Schweizerinnen und Schweizer den Weg in die Höhe, in die Sommerfrische.

Wie sieht der Bergtourismus aus, wenn unterhalb 3000 m ü.M. kein Schnee mehr liegt?
Zunächst noch dies: schneefrei unter 3000 m ü.M. scheint etwas apokalyptisch und es wird noch viele Jahre dauern, bis dies eintritt. Aber durchaus gilt: ohne Schnee – kein Wintersport. Die Ausprägung klimatischer Veränderungen, samt Zeitstrahl, sind aber gerade in den Alpen unklar. Modelle, etwa von Meteoschweiz*, betrachten einen Horizont bis 2060. Die progressivsten Annahmen gehen auf 2 500 m ü.M. von einer Reduktion der Frosttage von 280 auf 234 aus. Auf dieser Höhe wird Wintersport wohl noch sehr lange ein Thema sein, ganz anders in tiefer gelegenen Gebieten. Hier haben Herbst und Frühling an Bedeutung gewonnen und werden noch weiter zulegen. Die touristischen Aktivitäten sind Wandern, Mountainbike und viele weitere Outdoor-Erlebnisse.

Wie bereitet sich Schweiz Tourismus auf eine Schweiz ohne Skifahrer vor?
Eine Schweiz ohne Skifahrer liegt wie beschrieben in weiter Ferne. Selbstverständlich sind alle Destinationen gut beraten, mit den Veränderungen Schritt zu halten und ihre Positionierung und Angebote stetig anzupassen – das tun sie auch seit Längerem. Für Schweiz Tourismus als Marketingorganisation bedeutet dies folglich, neue Angebote in ein entsprechendes Schaufenster zu stellen. Dies hat bereits stattgefunden. Analysen haben gezeigt, welch grosses Potenzial etwa die Herbstsaison birgt, dies war der Grund für die bereits erwähnte grossangelegte Herbst-Kampagne 2018 oder den Ausbau vom saisonund wetterunabhängigen Gesundheitstourismus.

www.mySwitzerland.com/herbst *www.meteoschweiz.admin.ch/content/dam/ meteoswiss/de/Ungebundene-Seiten/Publikationen/Fachberichte/doc/fb243klimaszenarien.pdf


ZUR PERSON

Martin Nydegger ist Direktor von Schweiz Tourismus. Der 47-Jährige stammt aus Bern. Er hat als Direktor von Engadin Scuol Tourismus AG gearbeitet. Er war auch Marktleiter Niederlande und Leiter Business Development sowie in der Geschäftsleitung von Schweiz Tourismus, bevor er zum Direktor gewählt wurde. Die grössten Herausforderungen von Schweiz Tourismus sind die nachhaltige Rückkehr der europäischen Gäste und die Stimulation der Berggebiete.


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