Die Schutzbleche

  30.11.2018 Leserbeitrag

Was für die einen unverzichtbar ist, kann für andere völlig überflüssig sein. Oder was für die einen sehr wichtig ist, wirkt auf andere lächerlich. Wer zum Beispiel auf regennasser oder verschmutzter Strasse mit dem Velo zur Arbeit oder zur Schule fährt, ist sehr froh, wenn das Velo mit Schutzblechen ausgerüstet ist. Wer aber ein superleichtes und teures Rennvelo besitzt, kann sich kaum vorstellen, an diesem Velo Schutzbleche zu montieren. Denn Schutzbleche passen für sportliche Leute zu einem Rennvelo wie Bergschuhe zu einem Abendkleid. Wer aus ästhetischen oder sportlichen Gründen auf Schutzbleche an seinem Velo verzichtet, darf jedoch nicht klagen, wenn dann auf nasser Strasse der Strassendreck von den Rädern hochgeschleudert wird und sich auf Haut und Kleidern ablagert. In solchen Situationen gilt dann ganz einfach nur der Grundsatz: «Wer schön sein will, muss leiden.»

Bei Sonnenschein sind Schutzbleche am Velo überflüssig und ein notwendiges Übel. Aber sie schützen vor Sachen, die einen unter Umständen übel zusetzen könnten. Jeder Schutz und jede Versicherung, die wir brauchen, ist letztlich auch irgendwie ein notwendiges Übel. Hätten wir paradiesische Zustände, bräuchten wir keinen Schutz – weder am Velo noch im Leben. Zum Glück gibt es aber Schutzbleche. Leider schützen sie einen aber nur vor schmutzigem Wasser. Schön wäre es, wenn es für Velofahrende auch Schutzbleche gäbe, die vor den Autofahrern schützen, die ohne genügend Abstand überholen.

Auch im Alltag gibt es Situationen, in denen Schutzbleche sehr hilfreich wären. Zum Beispiel gegen die Trauer und die belastenden Stimmungen bräuchte man Schutzbleche für die Seele. Gegen all die Versuchungen, die auf Abwege führen, bräuchte man Schutzbleche für den Verstand. Gegen den Lärm der Motorsägen, Rasenmäher und Laubbläser sollte es Schutzbleche für die Ohren geben. Und um sich vor schweren Schicksalsschlägen, vor Mobbing oder kränkenden Unwahrheiten zu schützen, wären Schutzbleche für die Gesundheit sehr nützlich.

Solche «Schutzbleche» wären sogar für die leidenschaftlichen Rennvelofahrer sehr nützlich, obwohl sie um nichts in der Welt an ihrem Velo Schutzbleche montieren würden. Aber da es für all die speziellen Situationen keine Schutzbleche gibt, könnte man auf einer Velotour – mit oder ohne Schutzbleche – darüber nachdenken, wo man selber irgendjemandem oder irgendetwas Schutz bieten könnte. Auf unserer Erde gibt es so viel Schützenswertes, das unseren Schutz braucht, und so viele Menschen, die auf unseren Schutz angewiesen sind. Ja, sogar die Erde selbst braucht unseren Schutz, damit sie auch zukünftigen Generationen noch Heimat bieten kann. Die Erde braucht sogar ein riesengrosses Schutzblech, das sie vor den Menschen schützt – vor allem vor denen, die nur den momentanen Gewinn und das augenblickliche Glück suchen. Übrigens: Heimat- und Denkmalschutz pflegen, ohne den Umwelt- und Klimaschutz ernst zu nehmen, ist wie Velofahren im Sonntagsgewand ohne Schutzbleche. Früher oder später merkt man plötzlich, dass man etwas Wichtiges versäumt hat.

ROBERT SCHNEITER


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