Ein kleines Surselva-Dorf aus Knabensicht

  23.11.2018 Kultur, Schönried

Im Rahmen der alljährlich vom Hotel Ermitage Schönried organisierten Kultur-Abende gaben die Künstler Arno Camenisch, Gian Rupf und Christian Brantschen Kostproben aus dem literarischen Werk von Arno Camenisch zum Besten. Am letzten Dienstagabend las der Autor mit dem Schauspieler Gian Rupf aus dem frühen Roman «Hinter dem Bahnhof», während der Auftritt von letztem Donnerstagabend dem jüngsten Roman «Der letzte Schnee» gewidmet war. Musikalisch begleitet wurden die beiden Vorleser jeweils vom Akkordeonisten Christian Brantschen.

ÇETIN KÖKSAL
Nach einer Einleitung mit Akkordeon und Stimme entführten Camenisch und Rupf die zahlreich erschienene Zuhörerschaft vom wohlig warmen Ermitage-Salon in die archaisch raue Dörfchen-Welt ihrer Bündner Heimat. In «Hinter dem Bahnhof» erfährt der Leser oder Zuhörer diesen spannenden Mikrokosmos aus der Perspektive des kindlichen Ich-Erzählers. Mit seinem Bruder entdeckt er sein kleines, aber spannendes Dorf voller Abenteuer, wobei die verbotenen Aktionen natürlich die Schönsten sind. Dabei gerät die Mutprobe «Velo-Schussfahrt ohne zu bremsen» beinahe zum Drama, weil das Postauto ungünstig auf dem Dorfplatz im Weg steht. Die strengstens untersagte Besichtigung von Grossvaters geheimem Raum über seiner Sägerei lüftet ein gruseliges Geheimnis und die rasanten Skiabfahrten der beiden Wildfänge führt nach einer Kollision mit «Touristas» zum schmerzlichen Verlust des Skiabonnements.

Arno Camenisch ist es in diesem Frühwerk vorzüglich gelungen, die abgeschiedene Bergwelt der Surselva aus der Sicht des unbefangenen, spitzbübischen Protagonisten plastisch zu erzählen. In Kombination mit seinen bündnerischen Wortplatzierungen fühlt der Leser die eisige Winterkälte, wenn die Sonne das Dorf gar nicht mehr erreicht. Er sieht die nackte Grossmutter verwundert und neugierig aus Kinderaugen und er begegnet dem Alkoholiker am Stammtisch der Beiz «Helvezia» (mit z geschrieben!) mit unvoreingenommener Nüchternheit.

Schauspieler Gian Rupf vermochte die Kindersprache ohne übertriebenes Pathos oder fälschlich hineininterpretierte Unschuld wiederzugeben. Denn unschuldig im moralischen Sinn sind die beiden von einem Schabernack zum nächsten treibenden Jungs ganz bestimmt nicht. Genauso wenig sind es die übrigen Protagonisten. Nicht einmal der feinsinnige, selbsternannte, schöne Dorfdichter. Seine Poesie, so bescheiden im Anspruch sie auch sein mag, nutzt er ganz gezielt und ungeniert zum Bezirzen von potenziellen Eroberungen. Nur zu dumm, dass es davon gar wenige im kleinen Dorf gibt. «Hinter dem Bahnhof» beschreibt eine Welt, wo jede und jeder schuldig und unschuldig zugleich ist, eine Welt der Abgeschiedenheit und Nähe, ohne Smartphone, Yoga oder Ernährungsfetischismus. Eine Welt, in der Jungs sich austoben und raufen dürfen, wo die Abenteuer analog erlebt werden und anstatt Frühchinesisch Hochdeutsch die grösste Lernherausforderung ist. In dieser Welt sind ausnahmslos alle verhaltensauffällig und Lottomillionärin ist diejenige, welche fünfhundert Franken gewonnen hat. Selbst als Zeitgenosse, der die enormen Errungenschaften der Moderne zu schätzen weiss, darf man sich fragen, ob ein ganz kleines Bisschen mehr von dieser Welt uns nicht guttun würde.


Folgende Werke sind von Arno Camenisch im Engeler-Verlag erschienen: «Sez Ner», «Hinter dem Bahnhof», «Ustrinkata», «Las flurs dil di», «Fred und Franz», «Nächster Halt Verlangen», «Die Kur», «Die Launen des Tages», «Der letzte Schnee».


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