Es braucht die Schulsozialarbeit auch in Zukunft

  23.11.2018 Saanen

Vor zweieinhalb Jahren wurde die Schulsozialarbeit als Pilotprojekt im Saanenland eingeführt. An der nächsten Gemeindeversammlung beantragt der Gemeinderat die definitive Einführung.

BLANCA BURRI
«Braucht es die Schulsozialarbeit wirklich?», fragt sich der eine oder andere, welcher die Erläuterungen zu den Traktanden der nächsten Gemeindeversammlung gelesen hat. Um das zu beantworten, hat die Steuergruppe Anfang Jahr eine Umfrage lanciert. Dabei ist deutlich herausgekommen: Die Mehrheit der Schüler/innen, Lehrpersonen, Fachpersonen, Schulleitungen und auch die Schulsozialarbeit befürworten die definitive Einführung der Schulsozialarbeit.

Verändertes Umfeld
«Das ganze System Schule ist in den letzten Jahren viel komplexer geworden», erklärt Shupriya Chakraborty, Schulsozialarbeiterin. Deshalb hätten die Lehrpersonen viel mehr Aufgaben, die sie nicht mehr alle alleine bewältigen könnten. «Es macht Sinn, dass wir sie im sozialen Bereich entlasten.» Im Rahmen des Pilotprojekts wurde die Schulsozialarbeit vor zwei Jahren in Saanen lanciert.

Die 80 Stellenprozente, welche dafür vorgesehen waren, nahm Shupriya Chakraborty alleine wahr. Letzten Januar reduzierte sie ihr Pensum und Evelyne Moser übernahm 20 % der Arbeit. «Uns war es wichtig, dass wir auch die Teamsituation erproben können», betont Daniel Bühler, Fachleiter Kinder und Jugend, was sich als sehr positiv herausstellte. Die beiden Frauen können die Zuständigkeit für die sieben Schulhäuser aufteilen, über heikle Fälle austauschen und einander ergänzen.

Teilbereiche zurückgestellt
Schon bald zeichnete sich ab, dass mit 80 Stellenprozenten das ausgearbeitete Konzept nicht vollständig umgesetzt werden kann. Deshalb wurden die Präsenz in den einzelnen Schulhäusern reduziert und Teilbereiche wie Interventionsarbeit mit Gruppen und Klassen sowie Früherkennung nicht angeboten. Trotzdem wollte man auch in der Pilotphase erste Erfahrungen in diesem Bereich sammeln. Deshalb wurde Evelyne Mosers Anstellung im vergangenen August erhöht und das Kostendach des Pilotprojekts ausgereizt. «Im Herbst konnten wir probeweise eine Klassenintervention machen», erklärt Evelyne Moser. Dabei hätten sie sehr gute Erfahrungen gemacht und auch die Reaktionen der Lehrpersonen hätten gezeigt, wie wichtig und sinnvoll dieser Teil des Angebotes sei. Auch die gewünschte Präsenz in den Schulhäusern könnte durch die Erhöhung erreicht werden.

Es braucht mehr Manpower
Das erste Jahr hatte die Schulsozialarbeit sehr viel in Aufbauarbeit investiert. Sie ist inzwischen abgeschlossen. Das Vertrauen zwischen Lehrern, Eltern, Fachpersonen, Schülern und Sozialarbeitern konnte aufgebaut und erhalten werden. Hingegen melden sich mehr Hilfesuchende als angenommen und wie erwähnt konnten nicht alle im Pilotprojekt geplanten Leistungen angeboten werden. Deshalb budgetiert der Gemeinderat bei der allfälligen Einführung der Schulsozialarbeit insgesamt 150 % Stellenprozente, also 50 % mehr als heute. Sie Er rechnet mit jährlichen Vollkosten von 192 300 Franken.

Konkrete Arbeiten
Konkret sind in den vergangenen zwei Jahren Schüler/innen, Eltern, Lehrpersonen und Fachkräfte aktiv auf die Schulsozialarbeiterinnen zugegangen. «Sie alle haben das Gespräch gesucht», erzählt Shupriya Chakraborty. Dabei gab es viele Schüler/innen, denen geholfen werden konnte. Konkret konnten die Schulsozialarbeiter die Kinder und Eltern durch Gespräche unterstützen. Das hat eine Erleichterung bei den Kindern und Erwachsenen gegeben.
«Wir fragen die Kinder nach dem Gespräch immer, ob sie wieder kommen möchten und an welchem Thema sie weiterarbeiten wollen», sagt Evelyne Moser, welche auch als Jugendarbeiterin im soziokulturellen Bereich arbeitet. Die meisten vereinbaren an Ort und Stelle einen neuen Termin. «Wenn man seinen Kummer mit jemandem teilen kann, dazu eine Rückmeldung erhält und die Situation deswegen besser einordnen kann, ist vielen Kindern geholfen», erklärt sie. Während den Sitzungen werden Verhaltensveränderungen und Bewältigungsstrategien besprochen. «Natürlich sind die Erfolge oder die effektiven Veränderungen schwer messbar», sagt Shupriya Chakraborty.

Selbstkompetenz fördern
Den beiden ausgebildeten Fachkräfte ist es wichtig, dass die Kinder die Lösungen im Gespräch selbst erarbeiten und sie nicht von den Erwachsenen vorgesetzt erhalten. Sie setzen die Lösungsansätze im Kleinen um und erkennen, dass sie etwas dazutun können, um ihre Situation zu verändern. «Das macht die Kinder stark!», erklärt Evelyne Moser. Vor allem Kinder ab dem Oberstufenalter könnten Lösungsansätze sehr oft gut umsetzen.

30 Fälle mehr als erwartet
Laut Schulsozialarbeiterinnen waren die Probleme, mit welchen die Kinder zu ihnen kamen, selten klein. Der Schein trüge, dass es auf dem Land keine Probleme gibt und es deshalb keine Schulsozialarbeit braucht, sagen sie. «Das zeigt sich auch in der Bedürfnisabklärung im Vorfeld des Pilotprojekts. Wir gingen von 42 Fällen pro Jahr aus. In der Realität sind es aber nun 75», hält Daniel Bühler fest. Er ist überzeugt, dass die Schulsozialarbeit vor allem als Präventivmassnahme sehr wichtig ist.

Intervention wäre erwünscht
Seit der Erhöhung des Arbeitspensums vom vergangenen August ist die Schulsozialarbeit anders organisiert. Nun teilen sich Shupriya Chakraborty und Evelyne Moser die sieben Schulhäuser der Gemeinde auf. Dadurch können sich die zwei Fachfrauen besser auf die Herausforderungen in den einzelnen Schulhäusern konzentrieren. «Wir können uns besser auf die einzelnen Schulen, ihre Philosophie und somit auf die Schüler/innen und Lehrpersonen einlassen. Wir spüren besser, wo der Schuh drückt», betont Shupriya Chakraborty.

Weiterhin Pionierarbeit
«Schulsozialarbeit ist nach wie vor Pionierarbeit», weiss Shupriya Chakraborty. Die Erfahrungen in anderen Gemeinden zeigten, dass in der Pilotphase meist zu wenig Personalressourcen eingeplant und diese bei der definitiven Einführung aufgestockt worden seien. «In Saanen kommt erschwerend hinzu, dass es sich um eine Bergregion handelt.» Das heisse, dass praktisch alle Fachstellen weit weg und die Vernetzung deshalb schwierig sei. Man könne ein Kind nur mit relativ hohem Aufwand an eine Fachstelle weiterleiten, weil die Anfahrtswege einfach sehr lang seien, was für die Eltern und die Kinder einen grossen Aufwand bedeute.

Puzzlestück
«Die Schulsozialarbeit ist ein wichtiges Puzzlestück, das bisher gefehlt hat», ist sich Daniel Bühler sicher. Er begründet das auch damit, dass es sich positiv auf den Entscheid auswirken kann, ob jemand in die Gegend zieht oder nicht. Auch für junge Lehrpersonen, welche die Schulsozialarbeit von der Ausbildung her kennen und sie als wertvolle Ergänzung zum Unterricht betrachten.


O-Ton

Elternteil
«Ich finde die Schulsozialarbeit sehr gut und wichtig. Meinem Kind hilft sie, weil es dort Tipps bekommt und ihm eine neutrale Person zuhört.»

Schüler/in
«Ich brauche die Schulsozialarbeit nicht mehr, aber sie hat mir sehr geholfen. Es geht mir jetzt besser.»

Lehrperson «Die Schulsozialarbeit gibt ihr Bestes. Durch die geringe Präsenz ist eine Zusammenarbeit sehr schwierig. Das Fachwissen können wir so nur sehr wenig nutzen. Meines Erachtens eine Verschwendung von Kompetenz.»

Schüler/in
«Es ging jetzt 100 Jahre ohne Schulsozialarbeit, dann geht es jetzt auch ohne.»

Lehrperson «Mich erstaunt es, dass den Bewohnern des Saanenlandes nicht klar war, dass ein so grosser Bedarf seitens der Schüler vorliegt. Eine solche Person wäre schon vor 25 Jahren nötig gewesen.»

Elternteil
«Leider ist es schwierig zu messen, was es konkret bringt. Aber ich hatte sehr gute Begegnungen und mir persönlich hat es geholfen.»

Fachperson
«Die bestehenden Fachstellen und Fachpersonen sind mit der Vielseitigkeit und Menge der anstehenden Probleme häufig überlastet. Die Schulsozialarbeit füllt eine Lücke, die lange Zeit offen war.»


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