Lateinamerika – der taumelnde Kontinent

  30.11.2018 Leserbeitrag

Eine Zeitlang waren die Prognostiker geradezu euphorisch, wenn sie von den BRICS-Staaten sprachen, also von den Schwellenländern Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Noch vor rund fünf Jahren konnte man lesen, das Wirtschaftswachstum dieser Staatengruppe könnte bis 2050 gar die G8-Staaten überflügeln. Mindestens ein Land dieser Aufsteiger-Liga ist nun allerdings arg ins Trudeln geraten: Brasilien. Die Wahl des Rechtsextremisten Jair Bolsonaro vor Monatsfrist verschärft die seit einigen Jahren anhaltende schwere Krise des grössten lateinamerikanischen Landes.

Brasiliens tiefer Fall ist allerdings keine Ausnahme, sondern die Regel: Fast ganz Lateinamerika liegt am Boden, unabhängig davon, welche politische Richtung an der Macht ist. In Venezuela hat ein Linksregime das Land zugrunde gerichtet, die Menschen hungern und fliehen millionenfach. Im ebenfalls linksautoritär regierten Nicaragua hat die politische Krise seit April dieses Jahres über 500 Tote gefordert. Aber auch in allen anderen Ländern ist die Sicherheitslage katastrophal, von den weltweit 50 gewalttätigsten Städten liegen 42 in Lateinamerika. Wirtschaftlich gerät der Kontinent immer stärker in Schieflage. Nach einigen Jahren der Ruhe ist beispielsweise auch Argentinien wieder in eine Schuldenkrise geraten. Rund zwei Drittel der Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner leben in Armut oder sind akut davon bedroht. Die Vermögens- und Einkommensunterschiede sind weltweit spitze.

Beinahe wie in einem Polit-Labor hat Lateinamerika fast alle Konzepte durchgespielt, linksliberale bis linksradikale, bürgerlich-liberale bis extrem wirtschaftsliberale. Militärdiktaturen haben Demokratien abgelöst – und umgekehrt. Nur eines ist bisher nie erreicht worden: Stabilität. Diese Wechselbäder haben auch dazu beigetragen, dass sich nirgends starke, demokratisch legitimierte staatliche Institutionen und Verwaltungen herausbilden konnten, die auch bei einem Regierungswechsel reibungslos funktionieren.

Natürlich gibt es in jedem Land einen unterschiedlichen Ursachenmix für diese Misere, es gibt aber auch einige gemeinsame Gründe. Die Wirtschaftssysteme haben sich seit den Kolonialzeiten nie aus der Rolle der Rohstofflieferanten lösen können. Der Kontinent ist reich an Bodenschätzen unterschiedlichster Art, von Erdöl über Kupfer und Eisenerz bis Silber, pflegt Soja-Monokulturen und eine extensive Rindfleischproduktion – und nicht zuletzt den Kokainanbau. Es ist aber nur in Ansätzen gelungen, eine nachhaltige Industrialisierung voranzutreiben. Die Wirtschaft blieb also instabil, abhängig von den Weltmarktpreisen für Rohstoffe und somit krisenanfällig.

In Infrastruktur, Sicherheit, Bildung, Sozial- und Gesundheitssysteme wurde zwar vor allem unter linken Regierungen durchaus investiert. Gleichzeitig versickerte und versickert aber auch viel Geld in der Korruption. Und in diesem Punkt unterscheiden sich die verschiedenen politischen Lager kaum. Die Linken präsentierten zwar zu Beginn überall eine saubere Weste, doch bald steckten sie ebenfalls tief in Korruptionsskandalen, von Venezuela über El Salvador bis eben hin zu Brasilien. Glaubwürdiges politisches Personal ist parteiübergreifend eine Mangelware. Dass unter diesen Umständen die eigenartigsten Gestalten Morgenluft wittern und dann auch noch gewählt werden, erstaunt nicht.

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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