«Ich bin nicht stur»

  07.12.2018 Interview

Diese Zeitung traf auf einem Waldspaziergang zufälligerweise den Esel vom Samichlous an. Er verriet, dass er Kinderverse mag und ein Kreuz mit dem Kreuz hat.

BLANCA BURRI

Esel, war es gestern streng?
Sehr! Der Samichlous hatte eine endlos lange Liste von den Kindern und Orten, die wir besuchten.

Hast du heute Muskelkater?
Noch nicht, aber später am Abend werden nicht nur die Muskeln, sondern auch alle Knochen schmerzen. In der heutigen Zeit muss ich nicht mehr so viel arbeiten und tragen wie früher, deswegen bin ich etwas aus der Übung gekommen.

Magst du die Nüsschen, Mandarinen und Schokolade, die dein Meister verteilt?
Einmal hat mir ein Kind ein «Chlausesäckli» geschenkt. Ich mochte es sehr! Aber am nächsten Tag hatte ich Bauchschmerzen. Seither lasse ich es sein.

Was gehört bei dir zu einer feinen Mahlzeit?
Jetzt mag ich Heu und im Sommer Gras. Oft knabbere ich an Hölzern, Stauden und Stroh.

Die Kinder sagen jedes Jahr tausend Gedichte auf. Langweilt dich das?
Überhaupt nicht. Mit meinen grossen Ohren fange ich alle Sprüchlein ein. Ich versuche sie mir sogar zu merken. Viele Lehrerinnen und Lehrer studieren mit den Zöglingen etwas ein. Wenn sie dasselbe Sprüchlein aufsagen, weiss man, dass sie bei der gleichen Lehrperson zur Schule gehen. Das Gute daran ist, dass ich mir die Verschen durch die Repetition gut merken kann. Ich kenne inzwischen schon 239 verschiedene.

Was wird im Saanenland am häufigsten aufgesagt?
Den Reim kennst du bestimmt: «Samichlous, du guete Ma, gäll i muess kei Ruete ha, la mir gschieder es paar Nüssli da.»

Sind die Kinder manchmal frech?
Im Gegenteil, sie sind sehr artig, sie streicheln mich. Manchmal bekomme ich auch eine Karotte.

Brauchst du Hufeisen, weil du so weit laufen musst?
Nein! Meine Hufen sind für steinige, trockene und felsige Böden gemacht. Am liebsten lebe ich in den Bergen.

Und was sagst du zum Spruch: «Dumm wie ein Esel?»
Die Leute, die so etwas sagen, sind selber dumm! Sie wissen nämlich vieles über den Esel nicht.

Was zum Bespiel?
Wir Esel sind eigentlich in bergigem Gebiet zu Hause. Wenn wir an einer Felsklippe wegen eines Geräusches erschrecken, ist es sinnvoller, ganz ruhig stehenzubleiben, statt davonzurennen und damit den sicheren Absturz in den Tod zu provozieren.

Was hat das mit «dumm wie ein Esel» zu tun?
Wir gelten als dumm und stur, weil wir mucksmäuschen stillstehen, wenn wir erschrecken oder wenn auf uns eingeschlagen wird.

Das ist ein Kreuz!
Ja, das ist ein Kreuz mit dem Kreuz, das wir ständig auf unseren Schultern tragen.

Was meinst du nun schon wieder?
Weisst du nicht, dass wir ständig ein Kreuz mit uns herumschleppen? Ein Streifen unseres Fells ist vom Po bis zur Mähne dunkel gefärbt. Auf den Schultern kreuzt sich der Streifen mit einem andern, sodass es aussieht wie ein Kreuz.

Was machst du nun bis zum nächsten 6. Dezember?
Ich lebe beim Samichlous im Wald und helfe ihm bei seinen Arbeiten. Wenn der Samichlous gute Laune hat, darf ich ihm in der Stube vor dem prasselnden Holzfeuer Gesellschaft leisten.


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